Vor aller Augen
fünfzehn Jahre im Polizeidienst in Washington hatte ich das nie tun können.
Gewehrfeuer war zu hören, wahrscheinlich vom Marineinfanteriestützpunkt in der Nähe. »Wie war der Verkehr von Washington?«, fragte Nooney. Mir entging der Stachel in dieser Frage nicht. Man gestattete mir, abends nach Hause zu fahren, während die anderen Agentenanwärter in Quantico schliefen.
»Kein Problem«, antwortete ich. »Fünfundvierzig Minuten flieÃender Verkehr auf der 95. Ich bin auch früher als nötig losgefahren.«
»Das FBI ist nicht dafür berühmt, für Einzelne die Regeln zu brechen«, sagte Nooney. Dann schenkte er mir ein
sehr schmallippiges Lächeln, das einer Rüge gleichkam. »Aber Sie sind ja Alex Cross.«
»Ich weià das zu schätzen«, erwiderte ich â und belieà es dabei.
»Ich hoffe nur, dass es die Mühe wert ist«, sagte Nooney und marschierte in Richtung Verwaltung. Ich schüttelte den Kopf und ging zum Kurs, der in einem Raum mit ansteigenden Sitzreihen, wie in einem Theater, stattfand.
Dr. Horowitzâ Vortrag an diesem Tag interessierte mich. Er konzentrierte sich auf die Arbeiten von Professor Robert Hare, der grundlegende Forschungen über Psychopathen mittels Hirn-Scans betrieben hatte. Laut Hares Studien reagierten gesunde Menschen, wenn man ihnen »neutrale« und »emotionale« Wörter vorgab, sehr stark auf emotionale, wie Krebs oder Tod . Psychopathen dagegen nahmen alle Wörter gleich auf. Ein Satz wie: »Ich liebe dich« bedeutete einem Psychopathen nicht mehr als: »Ich möchte eine Tasse Kaffee.« Vielleicht sogar weniger. Laut Hares Datenanalyse machten Versuche, Psychopathen zu bessern, diese nur noch manipulativer. Das war ein wirklich interessanter Standpunkt.
Obwohl ich mit dem Material teilweise vertraut war, schrieb ich mir Hares »Charakteristika« einer psychopathischen Persönlichkeit und des entsprechenden Verhaltens auf. Er nannte vierzig. Während ich diese aufschrieb, stellte ich fest, dass ich dem meisten zustimmte.
Schlagfertigkeit und oberflächlicher Charme Bedürfnis nach ständiger Stimulation / Neigung, sich zu langweilen Fehlen von Reue oder Schuldbewusstsein Kaum spürbare emotionale Reaktionen Völliges Fehlen von Einfühlungsvermögen ...
Ich erinnerte mich besonders an zwei Psychopathen: Gary Soneji und Kyle Craig. Ich fragte mich, wie viele der vierzig »Charakteristika« auf diese beiden zutrafen und schrieb hinter die entsprechenden G.S. und K.C.
Dann tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um.
»Agent Nooney möchte Sie sofort in seinem Büro sprechen«, sagte ein Chef-Assistent und ging sofort los, mit der sicheren Gewissheit, dass ich ihm umgehend folgen würde.
Was ich auch tat.
Ich war jetzt beim FBI.
5
Senior Agent Gordon Nooney wartete in seinem kleinen, voll gestopften Büro im Verwaltungsbau. Offensichtlich war er sehr erregt. Dies hatte die gewünschte Wirkung: Ich fragte mich, was ich in der Zeit falsch gemacht haben könnte, seit wir vor dem Unterricht gesprochen hatten.
Lange brauchte er nicht, um mir den Grund seiner Verärgerung mitzuteilen. »Sie brauchen sich gar nicht erst zu setzen. In einer Minute sind Sie wieder drauÃen. Ich habe gerade einen höchst ungewöhnlichen Anruf von Tony Woods aus dem Büro des Direktors erhalten. In Baltimore gibt es eine âºSituationâ¹. Offensichtlich möchte der Direktor Sie dort. Selbstverständlich ist das wichtiger als Ihre Unterrichtsstunden.« Nooney zuckte mit den breiten Schultern. Durch das Fenster hinter ihm konnte ich den dichten Wald
und die Hoover Road sehen, wo einige Agenten joggten. »Zum Teufel, wozu brauchen Sie hier eigentlich eine Ausbildung, Dr. Cross? Sie haben Casanova in North Carolina gefangen. Sie sind der Mann, der Kyle Craig zur Strecke gebracht hat. Sie sind wie Clarice Starling im Film. Sie sind bereits ein Star.«
Ich holte tief Luft, ehe ich antwortete. »Ich habe mit dieser Sache hier nichts zu tun. Und ich werde mich nicht entschuldigen, weil ich Casanova oder Kyle Craig unschädlich gemacht habe.«
Nooney winkte ab. »Warum sollten Sie sich entschuldigen? Sie sind vom Unterricht befreit. Ein Hubschrauber wartet auf Sie drüben beim HRT. Sie wissen doch, wo das Hostage Rescue Team ist?«
»Ja, das weià ich.«
Vom Unterricht befreit! , dachte ich, während
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