Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Vorwärtskommen war kaum zu denken. Die meiste Zeit waren sie damit beschäftigt, Schaden vom Schiff abzuwenden, ohne selbst über Bord gespült zu werden. Zwei weitere Tage dauerte das Unwetter. Als am 2. Juli der Sturm plötzlich abflaute, rief Dick, dem die ganze Zeit speiübel gewesen war und der nichts in seinem Magen behalten hatte: »Geschafft! Jetzt hab ich auch meine Äquatortaufe!«
Ned und die anderen ahnten, dass es noch nicht vorbei war. Der Sturm machte nur eine Pause. Wenn er erneut ausbräche, würde es aufgrund der jetzt schon recht aufgewühlten See für die Mignonette noch gefährlicher werden. Doch niemand brachte es über Herz, dem Jungen die bittere Wahrheit zu sagen. Darum nickten sie nur stumm und wichen seinen erleichterten Blicken aus.
Bereits in der nächsten Nacht brach das Unheil über sie herein. Und diesmal war der Wind noch stärker, die Wellen noch höher, und die See hatte noch weniger Mitleid mit ihnen. Obwohl die Segel gerefft waren, riss das Großsegel entzwei, und sie mussten das kleine Sturmsegel setzen. Die Wellen bauten sich zu wahren Gebirgen auf, der Mast bog sich, dass sie jeden Moment mit einem Mastbruch rechnen mussten, und das Schiff wurde von den Böen so weit nach Lee gedrückt, dass sie sich festbinden mussten, um nicht über Bord zu gehen. Zwei Tage blieb das so, bis alle Mitglieder der Crew mit ihren Kräften am Ende waren. Die Schlaflosigkeit hatte sie reizbar und aggressiv gemacht. Lange würden sie es in ihrer Erschöpfung nicht mehr aushalten. Jeder Fehler könnte nun ihr letzter sein.
Inzwischen war der 5. Juli, der dritte Tag des dritten Sturms, und das Wetter war noch schlechter geworden. Die Wellen hatten eine Höhe von über dreißig Fuß und kamen in immer kürzeren Abständen, der Sturm brüllte wie ein wildes Tier, die Segel knallten wie Pistolenschüsse, die Schoten jaulten, der Mast knurrte. Die Männer hatten alles gegeben und sich völlig verausgabt. Das schien schließlich auch Kapitän Dudley einzusehen, und er gab den Befehl zum Beidrehen. Mit einer frischen Mannschaft hätten sie sicherlich noch einige Tage vor dem Wind ablaufen können, doch es ging einfach nicht mehr, deshalb ließ er abwettern. Das Ruder wurde auf Luv gesetzt und angelascht, das Tyrsegel wurde ein Stück freigegeben, bis es im Windschatten des Vorsegels stand und zu flattern begann. Das bewirkte ein Anluven, bei dem sich das Schiff mit dem Bug in den Wind drehte und sozusagen von alleine segelte. Solange die Segel hielten, blieb die Segeljacht auf diese Weise relativ ruhig im Wasser und konnte starken Stürmen trotzen. Fahrt war damit natürlich nicht zu machen, doch wichtiger war es, den Männern eine Verschnaufpause zu verschaffen, denn niemand wusste, wie lange die Stürme noch andauern würden.
Der Frieden dauerte nicht einmal eine halbe Stunde. Ned war gerade damit beschäftigt, die Taue am Rettungsboot nachzuziehen, als er den Maat am Ruder schreien hörte: »Vorsicht!«
Ned schaute nach Luv und erstarrte. Eine Welle von womöglich sechzig Fuß Höhe nahm den gesamten Horizont ein, wie eine schwarze Wand aus Wasser mit weißen Schaumkronen, die darauf hindeuteten, dass die gigantische Welle drauf und dran war, sich wie ein gefräßiges Raubtier auf sie zu stürzen. Ned hatte immer über das Seemannsgarn gelacht und die Geschichten von Monsterwellen für maßlose Übertreibungen gehalten, doch was er nun vor sich sah, ließ sich nicht anders beschreiben: Es war ein Monster!
Schnell wickelte er die Leine zweimal um seinen Arm, klammerte sich am Dingi fest und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Nur wenige Augenblicke später brach die Welle mit einer solchen Wucht über sie herein, dass ihm Hören und Sehen verging. Das Seil schnitt ihm ins Fleisch, er wurde mit dem Kopf gegen das Rettungsboot geschleudert, schnappte nach Luft und schluckte gleichzeitig Wasser. Es schien ihm, als machte das ganze Schiff einen Purzelbaum, oben und unten waren nicht mehr zu unterscheiden, die Welle hatte alles unter sich begraben, wirbelte sie wie Spielzeug herum.
Als Ned wieder zu sich kam, sah er den Kapitän, der direkt vor ihm stand und ihn mit verzerrter Miene anbrüllte, doch Ned war wie taub und hörte nichts. Allerdings verstand er ihn auch ohne Worte. An der Luvseite des Schiffes hatte die Welle die seitliche Beplankung des Schiffes eingedrückt und weggerissen. Die Mignonette hatte ein riesiges Loch und würde unweigerlich und binnen kürzester Zeit sinken. Sie mussten das
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