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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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wichtige Entscheidungen zu treffen waren, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie diese Antworten aussehen würden. Ich wusste nicht, was ich tun wollte, sondern nur, was ich nicht wollte. Und das stand in krassem Widerspruch zu dem, was alle anderen von mir verlangten. Aus diesem Dilemma sah ich keinen Ausweg. Oder ich schreckte vor dessen drastischen Konsequenzen zurück. Denn eines war mir in den letzten Tagen klar geworden: Nichts von dem, was ich tat, blieb ohne Folgen. Vor dieser Einsicht die Augen zu verschließen wie ein kleines Kind, brachte mich der Lösung keinen Schritt näher.
    Bevor ich mich jedoch meiner Zukunft widmen konnte, wollte ich zunächst ein heißes Bad nehmen und den Dreck der vergangenen Tage abwaschen. Ich kam mir unrein und befleckt vor, und das hatte nicht allein mit der schmutzigen Haut, der entzündeten Wunde und den fettigen Haaren zu tun. Mehr noch als die Tatsache, dass ich niedergeschlagen, verhaftet und vor Gericht gestellt worden war, machte mir die Erkenntnis zu schaffen, dass ich für den Tod einer Frau mitverantwortlich, dass ich letzten Endes zum Handlanger eines Mörders geworden war. »Sie haben die Frau auf dem Gewissen«, hatte Eva Booth am Samstag an der Themse gesagt, und das Wissen um die Folgen meiner Handlungsweise quälte mich.
    Die Erinnerung an jene Nacht vor drei Wochen war immer noch verschwommen und lückenhaft, doch das Bild der Elizabeth Stride war inzwischen vor meinem inneren Auge wieder aufgetaucht. Wenn ich an Long Liz dachte, sah ich eine verlebt und verhärmt aussehende Frau mit struppigen, bereits angegrauten Haaren. Eine ausgemergelte und – trotz ihres Spitznamens – alles andere als große Frau, die früher einmal hübsch gewesen sein mochte, nun aber von Alkohol und Armut gezeichnet war. Ihre Haut war fahl und faltig, die oberen Schneidezähne waren ihr bereits ausgefallen. Der Anblick ihres zahnlosen Oberbisses hatte mich davon abgehalten, mit ihr zu schlafen – daran glaubte ich mich inzwischen erinnern zu können. Ich hatte ihr den teuren Malzwhisky gegeben, ihrem geifernden Freund die versprochene Pfundnote in die Hand gedrückt und mich dann schleunigst davongemacht. Ich hatte mich vor der zahnlosen Elizabeth ebenso geekelt, wie ich mich nun vor mir selbst ekelte. Vielleicht weil ich mittlerweile wusste, dass ich dem Tod ins Gesicht geschaut hatte.
    »Schaff heißes Wasser nach oben, und lass mir eine Wanne ein!«, sagte ich zu Gray, als wir das Crown Hotel über den Hintereingang im Hof betraten. »Und bring mir alle Ausgaben der Times der letzten drei Wochen, die du im Salon oder im Raucherzimmer finden kannst!«
    »So lange waren Sie doch gar nicht weg, Boss«, wunderte sich der Junge.
    »Und auch die Evening News «, setzte ich hinzu, ohne auf seinen Einwand einzugehen. »Vor allem die Polizeimeldungen.«
    »Ay, Sir«, antwortete er, bedachte mich mit einem schiefen Blick und verschwand in der Küche, während ich mich ins Dachgeschoss zu meiner Mansarde begab.
    Die kleine Dachkammer mit den schiefen Wänden und der niedrigen Decke war vielleicht das einzige Zuhause, das ich jemals gehabt hatte. Meine »Trutzburg«, wie ich sie William gegenüber mitunter scherzhaft nannte. Meine »Räuberhöhle«, wie er sie abfällig bezeichnete. Und doch hätte ich sie niemals gegen eine der geräumigen Suiten im Hotel getauscht, in denen es fließendes Wasser, elektrisches Licht und einen Telefonanschluss gab.
    Umso entsetzter war ich daher, als ich nun feststellen musste, dass man mir meine Burg genommen hatte. Beim Betreten des Wohnzimmers rührte mich beinahe der Schlag – ich konnte nicht glauben, was ich sah. Das Zimmer war vollständig leergeräumt. Sämtliches Inventar war wie vom Erdboden verschluckt, nur das unbezogene Bett und ein leerer Schrank waren übrig geblieben. Die Bilder an den Wänden waren verschwunden, ebenso wie der Weidenkoffer unter dem Bett, meine Bücher hatte man samt dem Regal entfernt, selbst der kleine Petroleumkocher, auf dem ich mir hin und wieder einen Kaffee oder Tee gekocht hatte, war unauffindbar. Nur eine frisch gestärkte Abendgarderobe hing über einem Bügel vor dem Dachfenster, und ein loser Briefbogen lag auf dem Bett. Darauf stand in Williams schnörkelloser Kontoristenschrift: »Deine Sachen sind im Hatchett’s. Vater wünscht, dass du bis zu deiner Hochzeit bei ihm im Hotel wohnst. Sei um sieben Uhr zum Abendessen dort. Pünktlich! Und keine Mätzchen. Wir müssen reden.«
    Bei Vater im

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