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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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plötzliche Abneigung gegen das Heiraten und die Familie Barclay? Eine Soldatin der Heilsarmee? Ausgerechnet! Bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen?«
    »Du hast ihr von Meredith erzählt?«, fragte ich, ohne auf seine Anspielungen einzugehen. »Warum?«
    »Warum nicht?«, antwortete er und schüttelte in einer Mischung aus Heiterkeit und Unverständnis den Kopf. »Miss Wright Barclay wird bald deine Gattin sein. Schon vergessen? Du wirst mit ihr in Southwark wohnen, ganz in der Nähe eurer prächtigen Brauerei, und dann könnt ihr euren ganzen Reichtum der Heilsarmee spenden, wenn euch danach ist.« Er lachte laut und abfällig und winkte einem Hansom Cab, das gerade in den Yard gefahren kam. »Ich will ja gern zugeben, dass sie eine hübsche Person ist, deine Miss Booth, aber mal ehrlich, Rup, ausgerechnet eine Salutistin? Was ist bloß in dich gefahren?«
    »Sie ist nicht meine Miss Booth«, schleuderte ich ihm entgegen.
    »Und sie wird es niemals sein, wenn mich nicht alles täuscht«, antwortete er schroff, während er die Kutsche bestieg. »Und selbst wenn es so wäre! Meinen Segen hast du. Nimm dir so viele Mätressen, wie du willst. Mit Uniform oder ohne. Solange du Meredith Wright Barclay heiratest und dich nicht wie ein verdammter Halbwüchsiger benimmst.«
    Den Schein wahren! Allein darum ging es. Jede Schändlichkeit und jedes Laster waren erlaubt, solange sie heimlich vonstattengingen und niemand etwas davon mitbekam. Ich wusste, dass William seine Frau Betty seit Jahren mit einer Schneiderin aus der Bond Street hinterging, und vermutlich wusste sogar die brave Betty davon. Doch solange kein Wort darüber verloren wurde, wahrten alle das Gesicht, und dem Anstand war Genüge getan. Zum Trinken, Wetten und Spielen ging man in den Gentlemen’s Club, zum Herumhuren ins Bordell oder zu einer verschwiegenen Mätresse. Alles unter dem kuscheligen Deckmantel der Ehrenhaftigkeit. Dieselbe Heuchelei und Doppelmoral wurde nun auch von mir erwartet. Niemand rechnete ernsthaft damit, dass ich ein treuer Ehemann oder ehrbarer Gentleman sein würde, es wurde lediglich von mir verlangt, dass meine Untreue nicht ruchbar und mein flegelhaftes Benehmen nicht in die Öffentlichkeit getragen wurde. Und das widerte mich an. Wie ich mich auch selbst anwiderte, weil ich viel zu lange ein ebensolcher Heuchler und doppelzüngiger Scharlatan gewesen war. Und immer noch war.
    »Kommst du?«, fragte William, während er mir den Verschlag des Hansom Cabs aufhielt. »Oder willst du zur Salzsäule erstarren?«
    »Ich fahre mit Gray«, antwortete ich finster.
    »Vater will dich sprechen«, sagte er und klappte den Verschlag zu. »Heute noch. Aber wasch dich vorher, und zieh dir was anderes an. Du stinkst wie ein Iltis.« Er lehnte sich aus dem Fenster und setzte eindringlich hinzu: »Glaub mir, Rup, seine Drohung war ernst gemeint! Du gehst auf dünnem Eis, Bruderherz! Vaters Geduld ist am Ende, er wird dich vor die Tür setzen.«
    »Sag ihm, ich sitze im Gefängnis! Hätte ohnehin nicht viel gefehlt.«
    Wieder lachte er abfällig und rief: »Du hast mehr Glück als Verstand, Rup! Du weißt gar nicht, wie viel Glück du hast. Du hast die Freiheit gar nicht verdient.«
    »Ich bin im Gefängnis, Will«, murmelte ich leise. »Du siehst die Gitterstäbe nur nicht.« Doch selbst wenn er sie gehört hätte, hätte er den Sinn der Worte vermutlich nicht verstanden.
    William klopfte ans Kutschendach, der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und das Cabriolet verschwand durch den schmalen Durchlass in der Gresham Street.
    »Pub, Boss?«, fragte Gray.
    »Wie bitte?«, antwortete ich.
    »Pub?«, wiederholte Gray und deutete auf die Guildhall Tavern, die sich gleich neben der Kirche von St. Lawrence Jewry befand. »Auf die Freiheit.«
    »Pub!«, sagte ich und nickte. »Zum Teufel mit der Freiheit!«
    Wir überquerten den Yard und betraten die rauchgeschwängerte und rußgeschwärzte Schänke, die um diese Uhrzeit erstaunlich gut besucht war. Vermutlich war die Nähe zum Polizeigericht durchaus geschäftsfördernd, denn wer aus dem Gerichtssaal kam, hatte allen Grund zu trinken, sei es um zu feiern oder um seinen Kummer zu ersäufen. Nachdem wir uns an einem Ecktisch niedergelassen und zwei Pints Porter bestellt hatten, fragte ich Gray: »Was hast du ihr erzählt?«
    »Wem, Boss?«
    »Dem Captain.«
    »Nichts Besonderes«, meinte Gray und winkte ab, als wäre gar nichts geschehen. »Ich hab nur von meiner wundersamen Rettung

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