Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
erzählt.«
    »Deiner Rettung?«, entfuhr es mir. »Du hast hoffentlich keinen Unfug verbreitet!«
    »Nay, Governor, keine Bange«, antwortete er im breitesten Cockney-Slang, der bei ihm immer ein wenig aufgesetzt und übertrieben klang. Wie bei einem Schauspieler auf der Bühne.
    »Was hast du ihr erzählt?«
    »Nur wie Sie mich aus dem verdammten Ten Bells geholt und nach Mayfair geschafft haben. Hab vielleicht ein bisschen dick aufgetragen, damit’s hübsch dramatisch klang. Aber richtig gelogen hab ich nicht. Der Captain konnte gar nicht genug davon hören. Vor allem weil’s um den Ten Bells Pub ging und um Mr. Waldron, den alten Sklaventreiber.«
    »Miss Booth ist nicht gut auf den Wirt und seine Kneipe zu sprechen«, sagte ich, nahm die Biergläser vom Schankmädchen in Empfang und stieß mit Gray an. »Sie ist überhaupt auf Gastwirte und Alkohol nicht gut zu sprechen. Wie alle in der Heilsarmee. Prost, mein Junge!«
    »Prost, Boss«, antwortete er und nahm einen kräftigen Schluck. »Wissen Sie eigentlich, wieso das Ten Bells so heißt?«
    »Ten Bells?« Ich dachte einen Moment nach und sagte: »Wegen der Glocken im Kirchturm der Christ Church nebenan?«
    Er nickte anerkennend, grinste dann verschmitzt und sagte: »Es sind acht.«
    »Acht was?
    »Acht Glocken. Im Turm von Christ Church.«
    »Woher weißt du das?«
    »War oben und hab sie gezählt«, antwortete er wichtigtuerisch. »Acht Glocken. Mehr nicht. Und natürlich die kleine Glocke über dem Eingang zur Kirche. Macht neun. Es gibt keine zehn Glocken. Es fehlt eine.«
    »Na und?«, erwiderte ich und zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich klingt Ten Bells eben schöner als Nine Bells.«
    »Trotzdem«, beharrte er. »Alle denken, es gibt zehn Glocken in der Kirche. Nur weil die Kneipe so heißt. Aber keiner macht sich die Mühe nachzuzählen.«
    »Keiner außer dir.«
    Er lächelte stolz und ein wenig verlegen und sagte dann: »Das mit dem Ten Bells kam jedenfalls gut beim Captain an. Wie Sie mich aus den Klauen von Mr. Waldron befreit haben und so. Die Miss hat Sie anscheinend für so ’ne Art Scheusal gehalten, ganz so direkt hat sie’s natürlich nicht gesagt, aber gemerkt hab ich’s doch. Als ich meinen Sermon von der Rettung aus dem Elend vom Stapel gelassen hatte, da hatte sie allerdings ganz glänzende Augen, dass ich fast selbst geheult hätte, weil alles so jammervoll und herzergreifend war. Wie gesagt, ich hab vielleicht ein bisschen übertrieben.«
    »Hast dich zu einem zweiten Oliver Twist gemacht, was?«, lachte ich.
    »Kenn ich nicht. Weder den ersten noch den zweiten.«
    »Nicht so wichtig«, antwortete ich und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Du hast mir auf jeden Fall einen großen Gefallen getan, Gray.«
    »Dann sind wir ja quitt«, antwortete er und lachte ebenfalls. »Wenn Sie wieder mal Hilfe mit den Mädels brauchen, sagen Sie nur Bescheid, Boss. Ich kenn mich mit den Weibsbildern aus. Hab schließlich vier Schwestern.«
    »Wohnen die auch alle in London?«
    »Gott bewahre!«, rief er und kramte einen Tabaksbeutel aus der Brusttasche seiner Weste. »Die sind alle noch in Bulverhythe, unten an der Südküste. Das ist in der Nähe von Hastings. Ich hab’s da nicht mehr ausgehalten und mich heimlich vom Acker gemacht. Das war vor zwei Jahren.«
    »Du bist ganz allein nach London gegangen?«, wunderte ich mich und musste erneut an Oliver Twist denken. »Warum?«
    »Immer noch besser, als zur See zu fahren und als Schiffsjunge schikaniert zu werden oder sich im Hafen den Buckel krumm zu schuften«, antwortete er achselzuckend und fischte eine Packung mit Zigarettenpapier aus der Hosentasche. »Pay-Pay«, stand in schnörkeliger Schrift darauf. Ein seltsamer, aber entwaffnend ehrlicher Name, wie mir schien.
    »Was ist mit deinen Eltern? Leben die noch?«
    »Mutter vermutlich schon«, sagte er, drehte sich eine Zigarette und leckte über das Papier. »Aber Vaters blaue Visage liegt schon lange unter der Erde.«
    »Blaue Visage?«, wunderte ich mich.
    Er deutete auf sein riesiges Muttermal im Gesicht und setzte hinzu: »Ist ein Familienandenken. Vaters Gesicht sah genauso aus, und eine meiner Schwestern ist am ganzen Körper so blau wie ’ne reife Pflaume. Keine Ahnung, wo das herkommt. Scheint in der Maggott-Familie zu liegen.« Er lachte, zündete sich die Zigarette an einer Kerze an und sagte schmauchend: »Abwaschen lässt es sich jedenfalls nicht.«
    »Kann ich auch eine Zigarette haben?«, fragte ich. Meine letzte

Weitere Kostenlose Bücher