Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
vom 1. Oktober wurde detailliert ausgeführt, dass der Mörder der toten Frau nicht nur den Bauch aufgeschlitzt und die Organe entnommen, sondern auch das Gesicht bis zur völligen Unkenntlichkeit zerschnitten hatte. In der Ausgabe vom vergangenen Freitag hieß es zudem, der Vorsitzende der Bürgerwehr, ein örtlicher Geschäftsmann namens George Lusk, habe vom Ripper ein makaberes Päckchen mit einer halben menschlichen Niere erhalten. Vermutlich stammte die Niere von der ermordeten Eddowes, so behauptete es zumindest der Absender. Und überschrieben war der beiliegende Brief mit den Worten: »Aus der Hölle«.
Nie zuvor hatte ich etwas derartig Blutrünstiges und Grausames gelesen. Ich konnte nicht fassen, zu welchen Bestialitäten ein einzelner Mensch fähig war. Wie ein reißendes Raubtier war der Ripper über die Frauen hergefallen, doch während die meisten Raubtiere nur töteten, um ihr eigenes Überleben zu sichern, hatte der Unbekannte aus reiner Mordlust ein Menschenleben vernichtet. Und gerade weil es keinen erkennbaren Grund gab, die Frauen zu ermorden, weil es offenbar keinerlei persönliche Beziehungen zwischen dem Ripper und seinen Opfern gab, lief das Scheusal nach wie vor frei herum und würde vermutlich auch weiterhin morden.
Die Lektüre schlug mir nach kurzer Zeit auf den Magen und ließ das mulmige Gefühl, das ich wegen des bevorstehenden Abendessens mit meinem Vater ohnehin schon verspürte, zu einer heftigen Übelkeit werden. Dann jedoch erinnerte ich mich an den eigentlichen Zweck der Lektüre und versuchte, die garstigen Details der Morde zu ignorieren. Ich musste mich zwingen, mich nur auf die Fakten im Fall Elizabeth Stride zu konzentrieren, denn nur ihre Ermordung interessierte mich. Wegen ihres Todes trug ich das Kainsmal, wie Miss Booth es genannt hatte.
Mir fiel eine Bemerkung meines seltsamen Hauptmieters im Miller’s Court ein. Edmund hatte davon gesprochen, dass Long Liz, anders als die anderen Frauen, nicht verstümmelt worden war. »Nur die Gurgel durchgeschnitten«, hatte er gesagt, »und nichts von der Leiche mitgenommen.« Diese Aussage fand ich durch die Berichte in den Zeitungen bestätigt. Der Mörder hatte ihre Kehle durchtrennt, wie er es auch bei den drei anderen Frauen getan hatte, aber ihren Unterleib hatte er nicht angetastet. Er hatte sein Opfer weder aufgeschlitzt noch anderweitig verstümmelt. Dennoch schien niemand daran zu zweifeln, dass Long Liz ein Opfer des Rippers geworden war.
Eine weitere Besonderheit im Fall Long Liz war, dass in jener Nacht vom 30. September in den ersten beiden Stunden nach Mitternacht gleich zwei Frauen ermordet wurden: zunächst Liz in der Berner Street in Whitechapel und dann, nicht einmal eine Stunde später, auf ungleich brutalere Weise, Catharine Eddowes am Mitre Square, unweit vom Bahnhof Aldgate. Unter Polizisten und Journalisten herrschte Konsens, dass der Mörder bei Elizabeth durch ein herannahendes Pferdefuhrwerk gestört worden war, bevor er die Verstümmelungen durchführen konnte, und dass er deshalb gleich anschließend, weniger als eine Meile vom ersten Tatort entfernt, ein weiteres Mal mordete und diesmal umso bestialischer vorging.
Das klang keineswegs unlogisch und ergab aus Tätersicht sogar Sinn, aber dennoch blieb die Tatsache bestehen, dass sich der Mord an Elizabeth Stride auffallend von den anderen Gräueltaten unterschied. Und es wunderte mich, dass bislang niemand nach einem anderen Grund für den Doppelmord des 30. September gesucht hatte – zum Beispiel einem zweiten Mörder.
Irgendwo in der Nähe schlugen die Glocken einer Kirche. Ich fuhr erschrocken zusammen, als Gray mich antippte und sagte: »Es ist sieben, Boss.«
Fast im selben Augenblick stand William in der Tür, betrachtete uns mit sichtlichem Unverständnis und fauchte: »Wo bleibst du denn? Was treibt ihr hier?«
»Was habt ihr hier getrieben?«, antwortete ich und deutete auf das leere Zimmer.
»Aufgeräumt«, sagte er lapidar. »Also? Wie lange willst du Mr. Barclay noch warten lassen?«
»Mr. Barclay?«, entfuhr es mir, und nun wurde mir noch flauer in der Magengegend. »Was will der denn hier?«
»Er ist aus Southwark herübergekommen, um mit dir zu sprechen. Er hat sogar ein Geschenk für dich mitgebracht. Wir sitzen bereits alle beim Dinner. Beeil dich, Rupert! Und du!«, wandte er sich plötzlich an Gray und deutete mit dem Daumen über seine Schulter, »scher dich nach unten, sonst mach ich dir Beine!«
»Ay, Sir!«,
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