Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Zigarette hatte ich am gestrigen Abend mit Benjamin Graham in der Zelle am Snow Hill geteilt, und meine Lungen gierten nach dem beruhigenden Tabakrauch. Gray reichte mir den Beutel und das Papier, doch ich musste gestehen: »Ich kann das nicht.«
Er runzelte abfällig die Stirn, hob dann die Achseln, reichte mir seine brennende Zigarette und drehte sich eine neue. Nachdem ich das angesabberte Ende abgeknipst hatte, nahm ich einen tiefen Zug und bekam augenblicklich einen derartigen Hustenanfall, dass ich mich verschluckte und kaum Luft bekam.
»Was ist das denn für ein Kraut?«, fragte ich schließlich, spülte mit Bier nach und schüttelte mich. »Das schmeckt ja wie nasses Matratzengras.«
»Matratzengras?«, fragte Gray irritiert. »Kann man das rauchen?«
Wieder einmal fiel mir auf, dass Gray nicht das geringste Gespür für Ironie hatte. Er hielt alles für bare Münze und verstand selten einen Witz, weil er alles wortwörtlich nahm. Das lag keineswegs daran, dass er dumm oder begriffsstutzig war, sondern hatte eher damit dazu, dass er eine viel zu ehrliche Haut war. Er sagte stets, was er meinte, und das Gleiche erwartete er von allen anderen. Ironie und Wortverdrehung passten nicht zu ihm, sie waren ihm wesensfremd. Ein durchaus sympathischer Zug, um den ich ihn jedoch nicht beneidete, denn die Unfähigkeit zur Falschheit würde ihm in dieser verlogenen Welt noch einige Scherereien einhandeln.
Ich erinnerte mich an das, was Eva Booth im Zeugenstand gesagt hatte: »Ich lüge niemals.« In gewisser Weise waren sich Eva und Gray sehr ähnlich.
»Der Captain hat Ihnen ganz schön den Kopf verdreht, Boss.«
Ich fuhr aus meinen Gedanken auf und fragte: »Wie kommst du denn darauf?«
»Hab gesehen, wie Sie sie angeschaut haben. Den Blick kenn ich. So haben die Matrosen immer meine älteste Schwester Emily angeschaut, wenn sie am Hafen rumlungerte und mit ihrem hübschen Hintern wackelte.«
»Unfug!«, zischte ich und leerte mein Glas. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram! Davon verstehst du nichts.«
»Ay, Sir! ’tschuldigung, Boss«, antwortete er und starrte missmutig auf die Tischplatte. Plötzlich hellte sich sein Gesicht jedoch wieder auf. Er stieß eine Rauchwolke zur Decke und sagte: »Der Verrückte von St. Giles war übrigens wieder da. Hat in der Hofdurchfahrt gehockt und ans Fenster der Dienstbotenkammer geklopft.«
»Wann?«
»Gestern.« Gray machte eine krause Miene, als erinnerte er sich an irgendetwas, und setzte hinzu: »Der Kerl war gar nicht überrascht, als ich ihm erzählt hab, dass Sie im Knast sitzen. Als hätt er nichts anderes erwartet.«
»Ich war nicht im Knast, sondern auf der Polizeiwache.«
»Meinetwegen«, sagte er und nickte.
»Was wollte er?«, fragte ich.
Gray zuckte mit den Schultern und sagte: »Es war die Mutter.«
»Welche Mutter?«
»Keine Ahnung. Das soll ich Ihnen bloß ausrichten, Boss. Dass es die Mutter war. Nicht die Tochter. Und dass er sie von einem Foto abgemalt hat.« Gray tippte sich mit dem Finger an die Stirn und setzte hinzu: »Fragen Sie mich nicht, was der alte Suffkopf damit gemeint hat. Mehr wollte er nicht sagen. Sie sollen sich bei ihm melden, wenn Sie wieder draußen sind. Er war voll wie ’ne Haubitze und hat fürchterlich gelallt und herumkrakeelt. Von der Mutter und dem Foto und so.«
»Die Mutter«, antwortete ich und nickte. »Natürlich.«
Gray schaute mich an, als hielte er auch mich für verrückt.
»Lass gut sein, Gray«, sagte ich und hob abwehrend die Hand. »Das musst du nicht verstehen. Ich verstehe es ja selbst nicht.«
Gray schien erleichtert, doch zugleich war seinem Gesicht anzusehen, dass ihm eine Frage auf den Lippen lag.
»Nun rück schon raus damit!«, sagte ich.
»Was mir nicht in den Kopf will, Boss«, sagte er und trat seine Zigarette auf dem Boden aus, obwohl ein Aschenbecher auf dem Tisch stand. »Wieso malt jemand ein Foto ab? Ist das nicht irgendwie … nun ja, Unsinn?«
»Das ist eine gute Frage, Gray«, antwortete ich. »Eine sehr gute Frage.«
Gray lächelte stolz, griff nach seinem Bierglas und sagte: »Danke, Boss.«
4
Obwohl ich tagelang Zeit gehabt hatte, mir über alles Gedanken zu machen und meine wirren und zusammenhangslosen Überlegungen in irgendeine Ordnung zu bringen, war ich weit davon entfernt, einen konkreten Plan zu haben oder eine Strategie zu verfolgen. Noch immer ging in meinem Kopf alles drunter und drüber, und obwohl ich wusste, dass drängende Fragen zu beantworten und
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