Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
rief der Junge und sprang auf die Füße. Im Hinausgehen, während er sich noch vor William duckte, als befürchte er von ihm Schläge, rief er mir zu: »Hab noch was gefunden, Boss. Wegen der langen Liz und ihrem Freund. Michael Sowieso. Hatten Sie nicht gesagt, dass ich danach gucken soll?« Er deutete auf eine Ausgabe der Times , die er auf dem Boden ausgebreitet hatte, nickte mir zu und verschwand nach unten.
»Was ist jetzt?«, fragte William. »Kommst du?«
»Ich bin gleich so weit«, antwortete ich und versuchte, meine Aufregung zu verbergen. »Geh schon mal runter und warte in der Lobby auf mich!«
»Mensch, Rupert, übertreib es nicht!«, schnaufte William kopfschüttelnd und ging widerwillig hinaus.
Sobald die Tür geschlossen war, stürzte ich mich auf die besagte Zeitung. Es war die Ausgabe vom 4. Oktober. Fast auf Anhieb sprang mir ein Name ins Auge: Michael Kidney. Der Artikel war recht lang, trug die Überschrift »Die East End Morde« und befasste sich vor allem mit der gerichtlichen Untersuchung des Mordes an Elizabeth Stride durch den zuständigen Coroner der Grafschaft Middlesex am Tag zuvor. Verschiedene Zeugenaussagen wurden zusammengefasst oder zitiert, und ein nicht geringer Teil des Textes bestand aus der wörtlichen Wiedergabe der Vernehmung des Hafenarbeiters Michael Kidney, wohnhaft in der Dorset Street 38, Spitalfields.
Mein finsterer Freund Michael! Oder Mika, wie Long Liz ihn der Heilsarmee gegenüber genannt hatte. Elizabeths eifersüchtiger Zuhälter. Ein Wüterich, so hatte die Hure Ginger ihn genannt.
Michael Kidney bestätigte laut Zeitungsbericht dem untersuchenden Beamten, dass es sich bei der Toten um Elizabeth Stride handele, mit der er in den letzten drei Jahren fast durchgehend zusammengewohnt hatte. Seltsamerweise konnte er dem Coroner nicht genau sagen, wie alt seine Freundin war; er schätzte ihr Alter auf sechsunddreißig bis achtunddreißig Jahre. Sie sei Schwedin gewesen und in Stockholm geboren, außerdem sei sie Witwe gewesen. Ihr Mann, ein gewisser John Stride, sei bei einem Schiffsunglück auf der Themse ums Leben gekommen. Der Coroner wollte wissen, ob Michael kurz vor Elizabeths Tod einen handgreiflichen Streit mit ihr gehabt habe. Eine Zeugin habe ausgesagt, die Tote habe sich von ihrem Freund getrennt, sei bei ihm ausgezogen und habe sich deshalb mit ihm auf offener Straße gestritten. Michaels Antwort darauf und der weitere Verlauf der Vernehmung erschienen mir in der Tat bemerkenswert:
»Zeuge: Nein, ich habe mich nicht mit ihr gestritten. Ich sah die Verstorbene zuletzt am Dienstag vor einer Woche.
Coroner: Hatten Sie da einen Streit?
Zeuge: Nein. Ich habe mich von ihr verabschiedet und bin zur Arbeit gegangen.
Coroner: Haben Sie sie danach noch einmal gesehen?
Zeuge: Nein. Ich habe sie nicht wiedergesehen. Erst wieder, als ich ihren Körper im Leichenschauhaus identifizieren musste.
Coroner: Glauben Sie, dass sie an jenem Dienstag mit einem anderen Mann weggegangen ist?
Zeuge: Das glaube ich nicht, denn sie mochte mich mehr als alle anderen. Ich habe sie so behandelt, als wäre sie meine Frau gewesen. Es war der Alkohol, der sie manchmal weggehen ließ. Doch sie ist immer von allein zurückgekommen, ohne dass ich ihr hinterhergehen musste.«
»Dienstag vor einer Woche«, demnach am 25. September. An diesem Tag wollte Michael Kidney seine Freundin zum letzten Mal gesehen haben. Dabei hatte er drei Tage später gemeinsam mit mir vor dem Heim in der Hanbury Street gestanden und so lange herumkrakeelt, bis die bedauernswerte Elizabeth schlaftrunken aus dem Haus getreten war. Einen Tag vor ihrer Ermordung. Doch vor dem Coroner hatte Michael das mit keinem Wort erwähnt. Auch die Heilsarmee und die Tatsache, dass Elizabeth zwischenzeitlich Zuflucht im Frauenasyl gefunden hatte, tauchte in seiner Aussage nicht auf.
Er hatte den Coroner angelogen. Oder zumindest einen nicht unwesentlichen Teil der Wahrheit verschwiegen. Fragte sich nur, aus welchem Grund! Ich nahm mir vor, Michael Kidney bei unserem nächsten Zusammentreffen mit genau dieser Frage zu konfrontieren. Falls ich ihn jemals wiedersehen sollte.
5
William wartete in der Lobby auf mich und hakte sich bei mir ein, als hätte er Angst, ich könnte ihm andernfalls noch entwischen. »Wir sind spät«, sagte er und schleifte mich regelrecht zum Hatchett’s. Ich kam mir vor wie ein Rindvieh, das zur Schlachtbank geführt wurde und das gleichzeitig Mühe hatte, mit seinem Schlachter Schritt zu
Weitere Kostenlose Bücher