Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Hatchett’s! Das klang ungefähr so verlockend wie: mit Meredith Wright Barclay in Southwark. Oder: in einer Zelle der Polizeiwache am Snow Hill. Vater machte also ernst. Die Schlinge um meinen Hals zog sich immer enger zu, und ich hatte das beklemmende Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich erstickte. Ich wurde erstickt!
»Heißes Wasser, Sir!«, rief Gray, als er, ohne anzuklopfen, mit zwei dampfenden Eimern ins Zimmer kam. »Das kalte hole ich gleich aus der Dienstbotenküche.«
»Danke, Gray.« Ich nickte und deutete zur Tür der winzigen Abstellkammer, in der ich vor einiger Zeit eine emaillierte Sitzbadewanne hatte aufstellen lassen. Dann lachte ich und setzte hinzu: »Oder haben sie die Wanne auch hinausgetragen?«
»Die war vermutlich zu schwer«, antwortete Gray mit ernster Miene.
»Hättest mich ruhig warnen können«, sagte ich vorwurfsvoll.
»Hätte auch nichts geändert, oder?«, erwiderte er und schob die Unterlippe vor.
Ich nickte und nahm ihm die Eimer ab. »Um das restliche Wasser kümmere ich mich. Geh hinunter und schau nach den Zeitungen.«
» Times und Evening News «, rief Gray eilfertig. »Kommt sofort, Boss!«
Eine Viertelstunde später saß ich in der halb gefüllten Wanne und schrubbte im Schein einer Öllampe meine Haut mit einer harten Bürste, bis sie rot leuchtete und wie Feuer brannte. Erst jetzt bemerkte ich die Vielzahl von Bissstellen, blauen Flecken und kleineren Wunden, vor allem an den Unterarmen und Beinen, die wie die tätowierten Gliedmaßen eines Matrosen aussahen. Doch erst beim Blick in den Spiegel fuhr ich erschrocken zusammen. Der Rattenbiss an meinem Muttermal war zu einem regelrechten Furunkel geworden und hatte sich eitrig entzündet. Jede Berührung der Wange tat höllisch weh. Beim Versuch, die Wunde zu säubern, stiegen mir vor Schmerz die Tränen in die Augen.
»Sieht nicht gut aus«, hatte Gray am Morgen auf seine unnachahmlich schlichte Weise gesagt. Und jetzt wusste ich, dass er recht gehabt hatte. Es sah nicht gut aus! Wenn ich keine Blutvergiftung riskieren wollte, musste ich dringend Karbolsäure oder Jodtinktur aus der Apotheke besorgen. Oder die Wunden zumindest mit Alkohol behandeln.
Nachdem ich mich gewaschen, vorsichtig rasiert, die Wunden mit Brandy abgetupft, das Muttermal mit Mullpflaster bedeckt und die bereitgelegte Kleidung angezogen hatte, fühlte ich mich nicht gerade wie neugeboren, doch zumindest stank ich nicht mehr, und der Ekel vor mir selbst hatte ein wenig nachgelassen. Gray hatte sämtliche Zeitungen gebracht, die er im Salon hatte finden können, und half mir dabei, sie nach Berichten über die jüngsten Morde im East End zu durchforsten. Ich nannte ihm die Namen der Personen, auf die es mir besonders ankam. Er schien sich nicht darüber zu wundern, sondern sagte lediglich: »Gehen Sie jetzt auch auf Ripper-Jagd? Machen mittlerweile viele. Ist so ’ne Art Volkssport geworden.«
»Das überlass ich lieber der Polizei«, antwortete ich. »Schau nach, ob du etwas über Elizabeth Stride und ihren Freund Michael entdeckst. Oder über das Frauenasyl in der Hanbury Street. Alles, was mit den Morden zu tun hat.«
»Sie sollten lieber den Star lesen«, meinte Gray. »Die haben jeden Tag was über den Ripper gebracht. Hat sich anscheinend gut verkauft.«
»Den Star führen wir in unserem Hotel nicht«, antwortete ich und griff nach den Zeitungen. Zwar waren die Ausgaben der Times nicht mehr vollständig vorhanden, und von der weniger seriösen Evening News hatte Gray lediglich drei Seiten als Zündpapier vor dem Kamin gefunden, doch auch so reichte die Lektüre, um mir einen groben Überblick über das Geschehen der letzten Wochen im Allgemeinen und der Nacht vom 29. auf den 30. September im Besonderen zu verschaffen: Vier Frauen waren seit dem 31. August im East End getötet und anschließend grausam verstümmelt worden. Sie alle waren Prostituierte oder Gelegenheitshuren gewesen und dem Ripper an einem Wochenende in die Hände geraten. Der Mörder hatte den Frauen zunächst die Kehle durchgeschnitten und sie anschließend regelrecht zerstückelt, wobei die Brutalität und die Verstümmelungen von Mal zu Mal zugenommen hatten – als würde er sich in einen Rausch oder Furor morden.
Vor allem der bislang letzte Mord an einer gewissen Catharine Eddowes beschäftigte die Zeitungen. Der Ripper war dabei so bestialisch und grausam vorgegangen, dass mich allein die nüchterne Beschreibung der Tat erschaudern ließ. In der Times
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