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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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halten. So hastete ich in Williams Schlepptau die Dover Street entlang zur Piccadilly, die wenigen Stufen hinauf zum Eingang des Hotels, durch die Flügeltür und wortlos an Bellamy und der Rezeption vorbei, die breite Treppe hinauf in den ersten Stock und schließlich den Flur entlang bis zu den Gemächern meines Vater. Ein Etagendiener öffnete die Tür, William schob mich hinein, und ehe ich mich versah, stand ich im Speisezimmer an der festlich gedeckten Tafel und wurde von sämtlichen Mitgliedern der Familie Ingram sowie von einem jovial grinsenden Mr. Barclay mit großen Augen und leisem Raunen begrüßt.
    »Ah, da ist ja der Bengel«, sagte mein Vater, der am Kopfende des langen Tisches saß und herzhaft lachte, als wäre überhaupt nichts vorgefallen. »Immer der Letzte bei Tisch und anschließend der Erste im Rauchersalon. Das wird Meredith ihm noch austreiben müssen.«
    »Unpünktlichkeit ist das Vorrecht der Jugend, mein lieber Harvey«, sagte Mr. Barclay, der im steifen Cutaway neben meinem ebenso feierlich gekleideten Vater saß und mir den Stuhl zu seiner Linken anbot. »Wir sollten nicht so streng mit den jungen Leuten sein. Hauptsache ist doch, dass dein Sohn jetzt da ist. Guten Abend, Rupert.«
    »Was für eine schöne Überraschung, Sir«, log ich und setzte mich neben ihn.
    »Überraschung?«, wunderte er sich und zupfte an seinem Backenbart. »Aber so haben wir es doch am Donnerstag besprochen. Ich habe sämtliche Papiere dabei. Mein Londoner Anwalt hat sie heute durchgesehen und für unterschriftsreif erklärt.«
    Ich schluckte und nickte. Gleichzeitig hatte ich das dringende Bedürfnis, diesen Raum fluchtartig zu verlassen. Über den Tisch zu springen und das Weite zu suchen. Auf der Stelle!
    »Ich habe dir übrigens noch eine Kleinigkeit mitgebracht«, sagte Mr. Barclay, lächelte geheimnisvoll und klopfte mir auf den Rücken. »Alles in Ordnung, mein Junge? Du siehst blass aus.« Er deutete auf das Wundpflaster auf meiner Wange und fragte: »Hast du dich beim Rasieren geschnitten?«
    »So was Ähnliches«, antwortete ich.
    »Alles bestens«, mischte sich mein Vater ein. »Die Verträge können wir später bei einer guten Zigarre besprechen und unterschreiben. Finanzen und Geschäfte haben bei Tisch nichts zu suchen.«
    »Wie geht es Meredith?«, fragte ich, um überhaupt etwas zu sagen, und räusperte mich. »Ich hoffe doch, es sind alle wohlauf in Bury Hill.«
    »Blendend, ganz blendend«, antwortete Mr. Barclay und nippte an seinem Weinglas. »Meredith lässt ganz herzlich grüßen. Der kleine Robert ist ein wenig erkältet, aber es ist nichts, um das man sich Sorgen machen müsste. Ein robuster Junge, ganz wie sein Vater.« Er lachte über seinen Witz, und alle lachten mit.
    »Das freut mich zu hören«, sagte ich und bekam von einem Kellner den Suppenteller gefüllt. Es gab Hühnersuppe mit Grießklößchen. Das erste anständige Essen seit mehreren Tagen, bei dessen Anblick und Geruch mein Magen hörbar jubilierte. Während ich die Suppe vornehm schlürfte, obwohl ich sie am liebsten in mich hineingeschaufelt hätte, ging mein Blick zu meinem Vater, der mich seinerseits mit stechenden Augen und bedrohlich lächelndem Mund beobachtete. Während er bemüht war, das belanglose verbale Geplänkel, das bei einem Dinner üblich war, nicht abebben zu lassen, gab er mir mit seiner lauernden Miene zu verstehen, dass ich unter strengster Beobachtung stand. Es war offenkundig, dass Mr. Barclay keine Ahnung hatte, wo ich die letzten Tage verbracht hatte, und dass er es auf keinen Fall erfahren sollte. Vaters Blick befahl mir, darüber gefälligst meinen Mund zu halten. Ein Wunsch, dem ich nur zu gerne nachkam.
    Während die verschiedenen Gänge aufgetragen, das Geschirr und Besteck gewechselt und die Gläser von eifrigen Kellnern gefüllt wurden, herrschte angeregte Konversation. Bald tauschten man sich über das Wetter, bald über die Londoner Saison und den zunehmenden Verkehr auf Englands Straßen und Schienen aus. Auch das Thema Bier durfte natürlich nicht fehlen, und Mr. Barclay erntete die gebührende Portion Lob für sein florierendes Unternehmen. Außer meinem Vater und Mr. Barclay waren noch William und seine Frau Betty sowie Mortimer und dessen Frau Deborah anwesend. Die Kinder, die grundsätzlich nicht bei einem Dinner zugegen waren, aßen mit den Kinderfrauen in einem der Nebenräume.
    Obwohl es mir normalerweise nicht schwerfiel, oberflächlich zu parlieren und hübsch

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