Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
formulierte Belanglosigkeiten von mir zu geben, kam an diesem Abend kein vernünftiger oder gar pointierter Satz über meine Lippen. Ich überließ es den anderen, die Suppe, den Fisch, den Truthahn und den Pudding mit Floskeln und Bonmots zu garnieren. Hin und wieder fing ich die neugierigen Blicke der beiden Ingram-Frauen auf, die natürlich wussten, was geschehen war und wo ich die letzten Tage verbracht hatte. Es war offensichtlich, dass sie es empörend und unerhört fanden. Allerdings auch unerhört aufregend.
Mortimer unternahm während des Essens mehrfach den Versuch, Mr. Barclay auf seine Kaffeehauspläne anzusprechen, und wurde dabei tatkräftig von Deborah unterstützt, die darauf hinwies, dass ihr Daddy ihnen beim Einkauf des Kaffees selbstverständlich Sonderkonditionen anbieten würde. Doch unser Vater unterband diese ungebührlichen geschäftlichen Avancen stets auf dieselbe gebieterische Weise: »Später, Mortimer! Nicht bei Tisch!«
Obgleich das Essen hervorragend schmeckte und ich einen wahren Heißhunger hatte, konnte ich das Dinner nicht genießen. Stets musste ich daran denken, was nach dem letzten Gang auf mich wartete: die Unterschrift unter einen Vertrag, der meine Zukunft als Southwarker Brauer besiegeln würde. Der Gedanke an die Papiere, die Mr. Barclay mitgebracht hatte, ließ meinen Appetit versiegen. Gleichzeitig jedoch versuchte ich das Essen angesichts der drohenden Gefahr durch ständiges Nachfüllen und Nachlegen künstlich zu verlängern. Als ich den Kellner um eine dritte Portion des Yorkshire-Puddings bitten wollte, obwohl mir von dem Zuckersirup bereits der Gaumen klebte, riss meinem Vater der Geduldsfaden. Er warf die Serviette auf den Tisch und rief: »Zu den Zigarren!«
Wie auf Befehl standen Betty und Deborah augenblicklich auf, verabschiedeten sich für den Moment und begaben sich in den Salon, wo sie auf die Herren warten würden, die nun nach alter englischer Sitte im Raucherzimmer bei einer guten Zigarre und einem Brandy über Politik, Kultur und Sport debattieren würden, ob ihnen danach zumute war oder nicht.
Auf dem Weg ins angrenzende Raucherzimmer fasste Mr. Barclay mich an der Schulter, hielt mich zurück und überreichte mir ein in buntes Papier gewickeltes Paket mit den Worten: »Hab am Donnerstag gemerkt, dass es dir gefallen hat. Ich wünsche viel Spaß damit!«
Ich verstand nicht recht, riss das Papier auf und konnte kaum fassen, was ich in den Händen hielt: Oscar Wildes »Poems«. Jene Erstausgabe, die ich am Donnerstag um ein Haar aus Mr. Barclays Bibliothek gestohlen hätte.
»Für mich?«, rief ich und schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht machen.«
»Natürlich kann ich das«, antwortete er und lachte schallend. »Es gehört mir ja. Jetzt natürlich nicht mehr. Ich habe gesehen, wie verliebt du das Büchlein angeschaut hast, darum schenke ich es dir.«
»Dieses Buch ist eine absolute Rarität«, erwiderte ich und wollte ihm das kostbare Präsent zurückgeben. »Nur wenige hundert Exemplare sind von dieser Ausgabe erschienen. Das kann ich nicht annehmen.«
»Ach was!«, wehrte Mr. Barclay ab und machte eine abfällige Handbewegung, als ginge es um eine bloße Lappalie. »Bleibt ja in der Familie. Ich kann mit dem Geschreibsel von diesem affektierten Iren ohnehin nichts anfangen. Völlig überschätzt, der Mann. Und so aufdringlich. Er hat mir das Buch bei irgendeinem Empfang in die Hand gedrückt und vermutlich gehofft, ich würde mich in meinen Kreisen für ihn verwenden. Hab drin geblättert, fand es fürchterlich. Gedichte! Braucht kein Mensch.« Er lachte, klopfte mir auf den Rücken und sagte: »Aber wenn es dir gefällt, Rupert. Bitte sehr!«
»Vielen Dank, Sir«, war alles, was ich sagen konnte. Ich kam mir wie ein ganz gemeiner Hund vor. Er schenkte mir ganz nebenbei einen literarischen Schatz, und ich spielte zur gleichen Zeit mit dem Gedanken, die Verlobung mit seiner Nichte aufzulösen.
»Nicht der Rede wert«, meinte Mr. Barclay und verdrehte gespielt die Augen. »Werde das Buch nicht vermissen.« Er klatschte in die Hände, um das Thema zu beenden, betrat das Raucherzimmer und rief: »So! Und jetzt möchte ich gern eine von deinen Habanos, Harvey. Hast du noch eine von den köstlichen Partagás-Zigarren, die ich beim letzten Mal geraucht habe?«
»Mal schauen«, sagte mein Vater und öffnete den Humidor aus Spanischem Zedernholz, der für ihn wichtiger war als der Tresor in seinem Büro. Er holte einige Kistchen
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