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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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niemals vergessen. Sie hat geguckt, als wäre es ihr am liebsten gewesen, wenn ich mit dem Bild verbrannt wäre. Dann ist sie mit dem Koffer in der Hand davongeeilt.«
    »Kann ich ihr nicht verdenken«, sagte ich und zog das Foto aus meiner Brusttasche. »Und das Bild von ihr?«
    Er zuckte mit den Achseln und sagte: »Als ich ging, lag es auf dem Boden in ihrem Zimmer. Dreckig und bespuckt. Ich hab es liegen lassen.«
    Diesmal antwortete ich mit einem verständnislosen Blick.
    »Komm!«, rief er plötzlich, schnappte sich die Lampe vom Tisch und stand auf. Er warf den Zigarrenstummel in den Grog und ging zum Ausgang. Statt jedoch die Tür zu entriegeln und nach draußen zu gehen, verschwand er durch eine Pendeltür nach nebenan. Dort befand sich ein schmales Treppenhaus, das die Schankräume mit den Herbergszimmern und den Galerien verband. Ungeduldig rief er mir zu: »Nun mach schon!«

7
    Als ich durch die Pendeltür trat, stand mein Vater eine halbe Treppe höher und beleuchtete mit der Petroleumlampe die Wand, an der verschiedene Fotografien und Zeichnungen hingen: Stadtansichten und Karten von Southwark, alte Postkarten des George Inn und gerahmte Miniaturporträts. Den Segelohren und Strubbelhaaren nach zu urteilen, handelte es sich um Mitglieder der Familie Webster.
    »Hier habe ich es wiederentdeckt«, sagte mein Vater und deutete mit der Lampe auf ein gerahmtes Flugblatt an der Wand. »Genau an dieser Stelle.«
    »Was hast du entdeckt?«
    »Das Foto von Mary.«
    Ich stellte mich neben meinen Vater, betrachtete das vergilbte und an den Rändern eingerissene Flugblatt und las:
    »Spektakulum in der ›Pig & Pox Tavern‹
    DER MORD AM OLD BARGE HOUSE
    Drama von Raymond Webster«
    Das Papier schien alt zu sein. Es pries irgendein Theaterstück an, das in einer Southwarker Kneipe aufgeführt wurde. Weder von dem Stück noch von der Kneipe hatte ich je etwas gehört. Der Name des mir ebenfalls unbekannten Autors stellte allerdings die Verbindung zum heutigen George Inn her.
    »Ich verstehe nicht«, sagte ich.
    »Genau an der Stelle hing vor acht Jahren das Foto von Mary«, erklärte mein Vater. »Genau hier habe ich es wiedergesehen.«
    »Vor acht Jahren?«
    »Bei der Begehung der Schänke. Als ich mit Mr. Barclay und den Anwälten im George Inn war, um den Verkauf zu verhandeln«, antwortete er nickend. »Mehr als zehn Jahre hatte ich nicht mehr an das Foto gedacht. Ich hatte es völlig vergessen, wie ich auch Mary aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte. Seit ewigen Zeiten war ich nicht mehr in Southwark gewesen. Hab immer einen großen Bogen um das George Inn gemacht und mit Webster nur über Boten oder per Post verkehrt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich war, als die Barclay-Brauerei mit dem Kaufanliegen an mich herantrat.« Wieder ging sein Blick zur Wand. »Und plötzlich hing es da. Rodney Webster scheint es aufgehängt zu haben. Keine Ahnung, warum er das getan hat. Ich hab ja gesagt, dass er selbst auch ein Auge auf Mary geworfen hatte. Wahrscheinlich hat er es im Gesindehaus auf dem Boden gefunden. Ich habe ihn nie danach gefragt.« Er schüttelte den Kopf und setzte atemlos hinzu: »Ich wäre vor Schreck beinahe hintenübergekippt. Es war wie ein Schlag. Plötzlich lächelte Mary mich an, im Treppenhaus des George Inn. Gerahmt an der Wand. Zwischen all den hässlichen Webster-Köpfen.«
    »Na, na, Mr. Ingram!«, erklang in diesem Moment die Stimme des Wirts von der Tür. »Kein Grund, gleich ausfallend zu werden. Vergessen Sie nicht, dass Ihnen das George nicht mehr gehört! Auch wenn ich einen hässlichen Webster-Kopf hab, bin ich nach wie vor der Boss hier und lass mich nicht beleidigen!«
    Vater reagierte nicht und starrte unbeirrt auf die Wand. Er schien vollständig den eigenen Gedanken nachzuhängen und redete weiter, als spräche er zu sich selbst: »Webster hat sich diebisch gefreut, als er meine Reaktion gesehen hat. Als hätte er das Bild nur aufgehängt, damit ich es irgendwann mal zu Gesicht bekomme. ›Die gute Mary! Ein hübsches Kind‹, hat er gemeint und dreckig gelacht. ›Was wohl aus ihr geworden ist? Und aus dem armen Bastard?‹ Mir war so übel, dass ich mich beinahe übergeben hätte. Webster hat zufrieden gekichert. Und dann wollte er mir das Bild sogar schenken.«
    »Aber du wolltest es nicht«, sagte ich und glaubte sogar, den Grund zu verstehen. »Weil sie es bespuckt und zu Boden geworfen hatte. Weil die Erinnerung daran vergällt war.«
    »Vielleicht«, seufzte

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