Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
die Brille ab und rieb sich über die Nasenwurzel. »Das nun nicht, aber es stimmt, ich wollte sie loswerden. Weit weg, irgendwohin, wo sie keinen Schaden anrichten konnte. Ich wusste nicht mehr weiter. Es war alles außer Kontrolle geraten.«
»Und wie kam dieser Brooks ins Spiel?«
»Das war Websters Idee«, antwortete er achselzuckend. »Brooks war ein junger Seemann oder Hafenarbeiter, der seit Monaten jeden Abend in die Schänke kam, um Mary anzuhimmeln. Sie hat nur darüber gelächelt und sich über seine Avancen lustig gemacht, doch das hat den Kerl nicht davon abgehalten, sie mit großen Augen anzuschmachten. Er war ähnlich behext, wie ich es am Anfang gewesen war. Völlig verrückt nach ihr.«
»Verrückt genug, das Kind eines anderen als das eigene anzuerkennen?«, wunderte ich mich. »Und die Geliebte eines anderen zu heiraten?«
»Ich habe mit einer üppigen Belohnung nachgeholfen«, sagte er und mied meinen Blick. »Aber ich glaube, er hätte Mary auch ohne das Geld geheiratet.«
»Du hast sie verschachert?«
»Verschachert?!« Vater schaute mich erschrocken an, doch dann nickte er. »Ja, so kann man es sehen. Ich habe mich freigekauft.«
»Wieso hat Mary sich darauf eingelassen?«
»Was blieb ihr anderes übrig?«, antwortete er. »Ich hatte sie im Stich gelassen und ihr klargemacht, dass ich das Kind niemals anerkennen würde. Auf mich konnte sie nicht zählen. Und Webster hat gedroht, sie auf die Straße zu setzen, wenn sie nicht mit Brooks nach Essex ginge. Ein schwangeres Schankmädchen konnte er nicht gebrauchen, sonst hätte es nachher noch geheißen, er hätte sie geschwängert. Webster war in alles eingeweiht und hat das Ganze eingefädelt.«
»Gegen eine üppige Belohnung?«, vermutete ich.
Wieder nickte er und sagte: »Die Geschichte hat mich viel Geld gekostet. Ich habe für meine Dummheit eine Menge Lehrgeld gezahlt.«
Vater hatte recht gehabt. Es war eine äußerst unschöne Geschichte. Kein Wunder, dass er sie zwischenzeitlich aus seinem Kopf verbannt hatte. Und dass sie ihm immer noch zu schaffen machte. Harvey Ingram und Rodney Webster hatten auf ganz schmutzige Weise ihre Felle ins Trockene gebracht, wie zwei ausgemachte Halunken!
Wie aufs Stichwort erschien der Sohn des damaligen Wirts an unserem Tisch, griente entschuldigend und sagte: »Es ist bald Mitternacht, die Herren!«
Ich erwies mich als echter Ingram, zog eine Pfundnote aus der Brusttasche und hielt sie Webster vor die Nase: »Den Rest können Sie behalten. Sie haben doch sicherlich noch einiges in der Küche zu erledigen, oder?«
»Gibt immer was zu tun«, sagte der Wirt, machte einen Bückling, steckte das Geld ein und verschwand.
Beim Griff in den Mantel war ich auf das Foto gestoßen, das eingerollt in der Brusttasche steckte, und wandte mich nun wieder meinen Vater zu: »Was war mit dem Gemälde? Wieso hast du das Foto abmalen lassen?«
Er seufzte laut und stieß mühsam hervor: »Eine dumme Laune. Ein Anfall von Sentimentalität. Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht? Was soll der Unfug?«
Wieder flammte Unmut in ihm auf. Er war wütend auf mich, weil ich all die unangenehmen Fragen stellte, und auf sich selbst, weil er keine schlüssigen Antworten darauf wusste. Er wand sich auf seinem Stuhl, entzündete die erloschene Zigarre an der Lampe und schüttelte immer wieder den Kopf, als wäre er mit dem, was ihm durch den Schädel ging, selbst nicht einverstanden. Dann hielt er plötzlich inne und sagte: »An dem Tag, als sie das George Inn verlassen hat, habe ich Mary ein letztes Mal gesehen. Ich wollte mich von ihr verabschieden und ihr das Foto zurückgeben.«
»Warum?«
Er schaute mich verständnislos an.
»Warum musstest du ihr das Foto zurückgeben? Wieso hast du es nicht einfach in den Müll geworfen? Oder verbrannt?«
Sein konsternierter Blick verriet mir, dass er tatsächlich niemals auf diese Idee gekommen war. Dass es ihm schlichtweg unmöglich gewesen war, das Bild zu zerstören. »Du warst immer noch verrückt nach ihr, nicht wahr?«, vermutete ich. »Das Foto war nur ein Vorwand, sie wiederzusehen.«
Statt auf meine Frage zu antworten, sagte er mit finsterer Miene: »Mich von Mary zu verabschieden, war keine gute Idee. Das hätte ich eigentlich wissen müssen. Sie hat mir das Foto aus der Hand gerissen, es angespuckt und zu Boden geworfen. Dann hat sie das Foto von mir aus dem Koffer geholt und vor meinen Augen verbrannt. Ihren hasserfüllten Blick werde ich
Weitere Kostenlose Bücher