Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
»Der Mann mit dem Schnauzbart, das warst du, nicht wahr? Du hast dich mit Elizabeth in Dutfield’s Yard gestritten. Und der Ungar hat dich dabei gesehen.«
»Jack the Ripper hat Liz ermordet«, antwortete Michael achselzuckend. »Das kannst du überall nachlesen. Jeder Cop wird’s dir bestätigen.«
»Wir wissen es besser«, sagte ich, stellte mich so, dass der Tisch zwischen uns war, und hielt den rechten Arm hinter meinem Rücken. »Der Ripper hat damit nichts zu tun. Es war nur ein Zufall, dass in der gleichen Nacht Catherine Eddowes ermordet wurde. Nur ein paar hundert Schritte von der Berner Street entfernt. Darum haben alle gedacht, er hätte in dieser Nacht zweimal zugeschlagen.«
»Willst du mal was Hübsches sehen?«, rief Michael vergnügt, zog die Hand aus der Tasche und holte ein Springmesser heraus. Er drückte auf einen Knopf, und sofort schnellte eine Klinge seitlich aus dem Griff. »Mit diesem Messer wurde Liz getötet«, sagte er, zeigte mir das Messer und fuhr sich anschließend spielerisch mit der Klinge über die Gurgel. »Ein Schnitt, und schon war’s passiert!«
»Warum?«, fragte ich, während ich die Flasche hinter meinem Rücken fester umfasste. »Hat Liz dich betrogen? Wollte sie dich mal wieder verlassen? War’s ihr diesmal ernst damit? Wollte sie zurück zur Heilsarmee?«
»Scheiß auf Liz!«, schrie Michael plötzlich und stieß das Messer in meine Richtung, ohne mir damit jedoch bedrohlich nahe zu kommen. »Liz war nicht wichtig. Genauso wie Heather oder all die anderen Weiber. Eine wie die andere. Zum Teufel mit ihnen!«
»Wenn Liz so unwichtig war«, wunderte ich mich und ging langsam um den Tisch herum. »Warum hast du sie dann umgebracht?«
»Habe ich ja gar nicht«, lachte er glucksend und ließ das Messer von der einen Hand in die andere wandern. »Du hast doch den Star gelesen, Schwachkopf!«
Ich verstand nicht.
»Erinnerst du dich nicht, was der Ungar gesagt hat? Es gab einen zweiten Mann. Und der hatte das verdammte Messer!« Er schüttelte belustigt den Kopf und deutete mit seinem Springmesser zur Tür.
Das war die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte. Ich holte mit der Flasche aus und schlug mit voller Wucht auf sein Handgelenk. Seine Knochen brachen mit lautem Knacken, das Messer fiel zu Boden, und Michael stieß einen fürchterlichen Schrei aus. Erst als ich den Schatten hinter mir wahrnahm, begriff ich, was Michael soeben gesagt hatte: Der zweite Mann hatte das Messer! Mein Blick ging zur Tür. Dort stand Edmund und starrte mich an. Er hatte zwar kein Messer in der Hand, wie vor drei Wochen in der Berner Street, dafür aber eine seltsam geschwungene Eisenstange.
»Mach schon!«, schrie Michael.
Im selben Augenblick brüllte Edmund wie ein Affe, und die Stange sauste auf mich nieder. Ich ließ mich zur Seite fallen, doch der Schlag traf mich dennoch an der Schläfe. Mit einem Knall gingen die Lichter aus. Wie bei einer explodierenden Glühbirne.
ACHTER TEIL
NED BROOKS
»Murder! The very night seemed to know it, and the desolate wind to howl it in his ear. The dark corners of the streets were full of it. It grinned at him from the roofs of the houses.«
(»Mord! Selbst die Nacht schien es zu wissen, und der trostlose Wind schien es in sein Ohr zu heulen. Die dunklen Straßenwinkel waren voll davon. Es grinste ihm von den Dächern der Häuser entgegen.«)
Oscar Wilde, Lord Arthur Savile’s Crime, 1887
SEPTEMBER/OKTOBER 1884
1
Nichts galt mehr. Auf nichts war mehr Verlass. Das hatte Ned gewusst, als sie den armen Dick töteten, um sein Blut zu trinken und sein Fleisch zu essen. Und das wusste er auch jetzt, als er vom Angeklagten zum Verräter wurde. Vom Mittäter zum Zeugen der Krone. Sie hatten mit der Tötung des Jungen eine Grenze überschritten, waren zu reißenden Bestien geworden und würden fortan dafür zahlen. Nichts wäre mehr, wie es vorher war. Der Geist war aus der Flasche.
Zunächst aber hatte ihnen die grausame Bluttat das Leben gerettet. Am 29. Juli, fünf Tage nachdem sie Dick getötet und ausgeweidet hatten, waren sie von dem deutschen Segelfrachter Montezuma mitten im Atlantik aufgelesen worden. Das Beiboot und die abgenagten Überreste des toten Jungen hatten sie als Beweismittel mit an Bord genommen. Kapitän Dudley hatte darauf bestanden, nichts zu verheimlichen, sondern alles wahrheitsgemäß zu berichten. Der Brauch des Meeres stehe auf ihrer Seite, behauptete er und schien keinen Gedanken daran zu verschwenden, dass man
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