Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
ihnen aus dem Vorfall einen Strick drehen könnte. Der himmlische Gott und das irdische Gesetz waren gleichermaßen mit ihnen.
Umso größer war das Entsetzen, als die drei Männer Anfang September, direkt nach ihrer Ankunft in Falmouth, wegen Mordes verhaftet wurden. Drei Tage waren sie in einer kargen Zelle eingesperrt, bevor ein Friedensrichter sie bis zur Verhandlung am 18. September gegen eine hohe Kaution auf freien Fuß setzte. Immer noch war der Kapitän davon überzeugt, dass das Gericht sie freisprechen würde, weil sie ja nichts Unrechtes getan hatten. Dass sie gegen Kaution freigekommen waren und ihnen in der Stadt so viel Verständnis und Unterstützung entgegengebracht wurde, bestärkte den gutgläubigen Kapitän nur in seiner Ansicht. Und er erzählte allen Reportern und Neugierigen, die davon hören wollten, was draußen auf hoher See in dem verfluchten Dingi geschehen war.
Ned aber ahnte, dass sie nicht ungeschoren davonkommen würden. Dass sich etwas über ihren Köpfen zusammenbraute und ein Exempel an ihnen statuiert werden sollte. Allerdings hatte er keine Ahnung, dass ausgerechnet er als unfreiwilliges Werkzeug für dieses Exempel dienen sollte. Sie würden gemeinsam freigesprochen oder allesamt ins Gefängnis gehen, davon war Ned immer überzeugt gewesen. Erst als der Staatsanwalt bei der Hauptverhandlung die Beteiligung des Matrosen Brooks herunterspielte und zugleich die Schuld des Kapitäns Dudley und die Mitschuld des Maats Stephens betonte, schwante Ned, dass der Prozess eine unerwartete Wendung nehmen würde.
Weil Edmund Brooks sich mehrfach ausdrücklich gegen die Tötung des Jungen ausgesprochen habe, so schloss der Staatsanwalt seine etwas umständlichen Ausführungen, und weil besagter Brooks weder Täter noch Komplize bei der Ausführung der Tat gewesen sei, beantrage die Staatsanwaltschaft, den Angeklagten formell zu entlasten und ihn stattdessen für den Fortgang des Verfahrens als Zeugen zu benennen.
Der Friedensrichter stimmte dem Antrag überraschend schnell und widerspruchslos zu und beendete, unter dem beifälligen Murmeln der Zuschauer, die Beweisaufnahme gegen den Angeklagten Brooks.
Ned begriff zunächst nichts. Zu fremd waren ihm die juristischen Begriffe und das hochgestochene Vokabular. Doch als ihm sein Anwalt freudig die Hand schüttelte und ein ebenfalls lächelnder Polizist erschien, um ihn von der Anklagebank zu führen, da dämmerte ihm, was die Worte des Staatsanwalts bedeuten mochten, und er erschrak. Sofort ging sein Blick zu Dudley und Stephens, und deren Gesichtern war abzulesen, was sie in diesem Augenblick dachten: Ned hatte sie verraten. Er hatte die eigene Freiheit erkauft, indem er sie ans Messer lieferte.
Gern hätte Ned ihnen zugerufen, dass sie sich irrten und dass er von dem Kniff des Staatsanwalts, der offenbar mit dem Richter abgesprochen war, ebenso überrascht war wie sie, doch schon fasste ihn der Polizist am Ärmel und führte ihn aus dem Saal. Dass manche der Zuschauer ihm applaudierten oder sogar auf die Schulter klopften, machte alles nur noch schlimmer. Denn kurze Zeit später, nachdem er grübelnd im Flur gesessen hatte, wurde er erneut in den Gerichtssaal gerufen. Diesmal als Zeuge der Krone.
Im Zeugenstand sagte er genau das aus, was er auch als Beschuldigter stets zu Protokoll gegeben hatte. Und es unterschied sich nur unwesentlich von dem, was Tom Dudley und Edwin Stephens ausgesagt und niemals bestritten hatten. Ja, er versuchte sogar, die in seinen Augen eigenmächtige Vorgehensweise des Kapitäns zu beschönigen, und wies darauf hin, dass sie alle nicht mehr leben würden, wenn Dudley und Stephens anders gehandelt hätten. Doch darum ging es dem Staatsanwalt nicht, und auch das Gericht interessierte sich mehr für den Akt der Tötung als dafür, wessen Leben durch diese Verzweiflungstat gerettet worden war. Einziger Zweck des Verfahrens war es, den Angeklagten den mildernden Umstand der Notwehr abzusprechen.
Als Ned seine Aussage gemacht hatte und vom Staatsanwalt mit einem zufriedenen Nicken entlassen worden war, hatte er wieder einmal das Gefühl, sich schmutzig gemacht und seine Seele verraten zu haben, eine ohnmächtige Figur in einem abgekarteten Spiel zu sein. Ein bisschen wie damals bei seinem Einverständnis, die schwangere Mary zu heiraten und nach Brightlingsea zu schaffen. Oder im Dingi, als er stillschweigend zugesehen hatte, wie ein wehrloser Junge getötet worden war. Das Schicksal meinte es nicht gut mit Ned.
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