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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Die Ereignisse rollten über ihn hinweg, rissen ihn mit und spuckten ihn wieder aus. Und Ned hatte keine Ahnung, was er dem entgegensetzen konnte.
    Der Friedensrichter von Falmouth verwies das Verfahren wegen der Schwere der Anschuldigungen an das Schwurgericht in Exeter, wo Ned erneut aussagen musste, diesmal vor Geschworenen. Der Richter ließ die beiden Angeklagten vorübergehend auf freien Fuß, aber nur gegen Kaution, bis zum nächsten Gerichtstermin.
    Ned hingegen war in jeder Hinsicht ein freier Mann. Er konnte gehen, wohin er wollte, wie ihm sein Anwalt versicherte. Ned dankte ihm und schüttelte zugleich den Kopf. Er wusste es längst besser.

2
    Sie verachteten ihn. Ned kannte die Blicke, mit denen sie ihm in der County Tavern und den anderen Kneipen in Southampton begegneten, nur zu gut. Als wäre seine bloße Anwesenheit eine Beleidigung oder Zumutung für sie. Darum schaute er zu Boden und wich ihren Blicken aus, die wie spitze Pfeile waren. Auch Mary hatte ihn auf diese Weise angeschaut, als er nach dem Tod des kleinen George an dessen Grab gesagt hatte, nun könnten sie doch von vorne anfangen und alles würde ein gutes Ende nehmen. »Ein gutes Ende?«, hatte Mary ihn wütend angefaucht. »Für wen?« Ihre Augen waren voller Hass und Abscheu gewesen.
    Es waren oft nur verstohlene Blicke und kleine Gesten, selten offene Worte und noch seltener grobe Taten. Doch Ned wusste, dass sie ihn für einen Judas Ischariot hielten. Egal ob in Mr. Egertons County Tavern oder den anderen Hafenkneipen in Northam, überall wurde er abschätzig beäugt und wie ein Aussätziger gemieden. Wenn er am Tresen saß, wurden die Hocker neben ihm bald frei. Wenn er sich an einen Tisch setzte, standen die anderen wortlos auf und gingen. Als wäre es seine Schuld, dass die Geschworenen in Exeter die beiden Seeleute für schuldig befunden hatten, ohne jedoch im Urteilsspruch klarzustellen, ob es sich nun um Mord handelte oder nicht. Das würde erst in einer weiteren Verhandlung vor einem höheren Gericht in London festgestellt, und dort würde auch das Strafmaß festgelegt. Glücklicherweise war Ned nicht aufgefordert worden, erneut in London auszusagen. Die Protokolle seiner bisherigen Aussagen genügten dem Gericht, und so blieb es Ned erspart, dem Kapitän und dem Maat der Mignonette ein weiteres Mal unter die Augen zu treten. Auch sie hatten ihn mit diesem beredten und vernichtenden Blick bedacht.
    Alle hielten Ned für einen Schurken. Nicht weil er das Fleisch von Dick Parker gegessen hatte, sondern weil er nicht mit den anderen beiden Männern auf der Anklagebank saß und bangend auf die Urteilsverkündung in London wartete. Im Gerichtssaal hatten die Leute ihm noch applaudiert, doch nach dem Ende der Verhandlung in Falmouth und der nicht erfolgten Freilassung der anderen Männer war die Stimmung merklich gekippt. Plötzlich musste er sich rechtfertigen, obwohl er doch gar nichts falsch gemacht hatte. Er hatte nicht gelogen, er hatte keinen Judaslohn empfangen, er hatte niemandem Schaden zugefügt. Er war unschuldig in die Mühlen der Justiz geraten und zwischen ihren Mühlsteinen zerquetscht worden. Durch eine Freilassung, die alle für das Ergebnis eines verräterischen Handels mit dem Anwalt der Krone hielten! Dass das nicht der Wirklichkeit entsprach, konnte er nicht beweisen, und seinem Wort wurde nicht geglaubt. Der äußere Schein sprach gegen ihn. Die Freilassung hatte ihm das Genick gebrochen.
    Das Schicksal war ein schlechter Verlierer, dachte Ned manchmal. Immer wenn er glaubte, dass alles sich zum Guten wendete, kam von irgendwoher der nächste Nackenschlag. Er hatte die Frau geheiratet, die er liebte, doch das hatte sein Leben vernichtet. Er hatte einen Schiffbruch überlebt und war gerettet worden, wurde aber als Kannibale und Mörder angeklagt. Er war freigesprochen worden, galt seitdem aber als Verräter.
    Beinahe schlimmer als die Ablehnung und der Hass, die ihm so unvermittelt entgegenschlugen, war die Tatsache, dass er keine anständige Arbeit mehr fand. Kein Schiff, egal ob Überseedampfer oder Flussfähre, ließ ihn anheuern, kein Kapitän wollte es wagen, ihn an Bord zu beschäftigen und dadurch womöglich eine Rebellion der Mannschaft zu riskieren. Auch die Segelregatten kamen nicht mehr in Frage, weil sich die unrühmliche Kunde längst wie ein Lauffeuer an den Küsten entlanggefressen hatte. Nicht einmal in Brightlingsea hätte man ihn auf einer Rennjacht arbeiten lassen.
    Ned Brooks war als Matrose

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