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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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erledigt. Er hielt sich als schlecht bezahlter Tagelöhner in den Docks von Northam leidlich über Wasser und versoff das wenige Geld abends in den Schänken. Nur der Alkohol war ihm geblieben und in all den Jahren nie untreu geworden. Damals in Brightlingsea, als er den Ekel über sich selbst in Schnaps ertränkt hatte, und heute in Southampton, wenn er billigen Fusel in sich hineinkippte, um die Erinnerung an die Tage im Dingi abzutöten und die unbegreiflichen Folgen des Schiffbruchs zu verdrängen. Ein verlässlicher Freund! Der einzige, den er noch hatte.
    Der Brief aus London kam ebenso unerwartet wie gelegen. Wie ein Geschenk. Ned hatte seit Tagen keine Arbeit im Hafen gefunden, was auch daran lag, dass er nur noch volltrunken durch die Gegend wankte und sich wortwörtlich den Verstand aus dem Schädel soff. Mit billigem Blindmacher, der nach Steinöl schmeckte und einem das Hirn ausradierte. Das Schreiben stammte von einem gewissen Tom Norman, der sich selbst »The Silver King« nannte und ihm ein verlockendes Angebot machte. Ned sollte als Darsteller in einer Bühnenschau irgendwo im Londoner East End auftreten. Dabei sollte er nichts anderes machen, als auf der Bühne seine Geschichte zu erzählen. So detailliert, kenntnisreich und realistisch wie möglich. Damit das geneigte Publikum erfahre, welche unsäglichen Qualen die armen Seeleute auf hoher See durchlitten hätten, wie Mr. Norman es in seinem Brief pathetisch ausdrückte.
    Ned war zwar ein Säufer und manchmal etwas schwer von Begriff, aber er war kein Dummkopf. Er wusste, was es mit diesen Penny Gaffs auf sich hatte, denn er hatte in den letzten Jahren einige solcher Vorstellungen gesehen, in denen menschliche Kuriositäten, absonderliche Gestalten und blutrünstige Geschichten präsentiert wurden. Doch der versprochene Lohn war ordentlich, Kost und Logis waren inbegriffen, und ob er sich nun in den Straßen Southamptons zum Gespött machte oder auf einer Londoner Bühne den Kannibalen mimte, darauf kam es letztlich nicht an. Ned hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. Seinen Stolz als Allerletztes.
    Also kaufte er sich von seinem letzten Geld eine Fahrkarte dritter Klasse nach London, ging vom Bahnhof Waterloo direkt zur Whitechapel Road im East End und trat bereits einen Tag später beim Silver King auf. Aus dem Matrosen Ned Brooks wurde der »Kannibale des Meeres«, der dem gebannten Publikum von dem Untergang der Mignonette und den Tagen im Dingi erzählte.
    Neben ihm traten vollbärtige Spanierinnen, verhutzelte Zwerge, orientalische Feuerschlucker und spindeldürre Riesen auf. Und nicht zuletzt, als Hauptattraktion der Schau, der sogenannte »Elefantenmensch«, eine fürchterlich anzuschauende Kreatur, die so missgestaltet war, dass die Frauen im Publikum bei ihrem Anblick reihenweise in Ohnmacht fielen. Gegen diesen Joseph Merrick war Neds Auftritt, bei dem er sich vor einer schäbigen Kulisse in zerlumpten Kleidern zeigte und mit rollenden Augen blutiges Fleisch verzehrte, eine eher harmlose Angelegenheit. Doch seltsamerweise fühlte er sich im Kreise dieser kuriosen und widernatürlichen Gestalten zum ersten Mal seit langer Zeit gut aufgehoben. Er war, so eigenartig ihm das selbst auch manchmal erschien, unter seinesgleichen – ein Ausgestoßener unter Ausgestoßenen.
    Ned schrieb Mr. Egerton eine Ansichtspostkarte des Penny Gaffs und teilte ihm, nur für den Notfall, seine aktuelle Adresse mit. Doch nie meldete sich jemand aus Southampton oder kam ihn gar besuchen. Alle waren erleichtert, dass er sie nicht länger mit seiner Gegenwart belästigte. Und er war froh, sich nicht länger rechtfertigen zu müssen.
    Anfang Dezember 1884 las er in der Zeitung, dass Tom Dudley und Edwin Stephens vom Londoner Divisionsgericht zum Tode verurteilt worden waren. Was für seinen Auftritt auf der Bühne durchaus förderlich war, weil es die nachlassende Aufmerksamkeit plötzlich in die Höhe schnellen ließ, bedeutete für Ned eine persönliche Katastrophe, die nicht einmal durch unablässigen Alkoholexzess abzumildern war. Ned dachte mehr als einmal an Selbstmord, doch dazu fehlte ihm der Mut. Und so war die Erleichterung groß, als die Verurteilten wenig später von der Königin begnadigt und das Todesurteil in eine Gefängnisstrafe umgewandelt wurde. Die Krone hatte ihren Präzedenzfall und war vermutlich mit dem Ausgang des Verfahrens sehr zufrieden. Die unglücklichen Beteiligten wurden für eine Weile in Holloway weggesperrt und dann nicht

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