Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
ihnen zu sehen. Im ersten Augenblick dachte ich, die beiden Verfolger von den Katherine Docks hätten mich eingeholt, aber das war natürlich Unsinn, wie sich sehr bald herausstellte.
»Na, wen haben wir denn da?«, hörte ich Michael Kidneys spöttische und zugleich bedrohliche Stimme. »Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt.«
An dem mehrfachen Räuspern, das auf Michaels Worte folgte, erkannte ich, dass Edmund neben ihm stand.
»Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst verschwinden?«, fauchte Michael, baute sich vor mir auf und stieß mich zurück in den Hof. »Schnüffelst du immer noch hier rum? Ich hatte dich doch gewarnt! Bist du lebensmüde, oder was?«
»Wieso sollte ich verschwinden? Hab doch die Miete einen Monat im Voraus gezahlt«, gab ich mich ahnungslos und ging einige Schritte zurück, sodass ich aus Michaels Reichweite war. »Außerdem habe ich deine Freundin hergebracht. Sie ist schwer verletzt und braucht Hilfe.«
»Welche Freundin?«, knurrte Michael und gab Edmund ein Zeichen, im Durchgang stehen zu bleiben und mir so den Weg zu versperren.
»Heather«, antwortete ich verdutzt. »Wie viele Freundinnen hast du denn?«
»Was ist mit ihr?«, sagte Michael, kam mir erneut näher und packte mich am Kragen. »Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich? Nichts!«, empörte ich mich und wehrte ihn ab. Ich griff in meine Manteltasche, doch die Brandyflasche, die ich als Waffe hätte benutzen können, befand sich nicht mehr darin. Vermutlich war sie auf dem Weg zum Miller’s Court herausgefallen. »Heather wurde von einem Freier übel zugerichtet«, sagte ich. »Ich hab sie zufällig gefunden und in meine Kammer gebracht. Sie liegt ohnmächtig auf dem Bett und braucht dringend einen Arzt.«
»Dummes Zeug!«, schnauzte Michael und winkte ab. »Vermutlich hat sie nur wieder einen über den Durst getrunken. Verdammte Schnapsdrossel!« Er schlug mir mit der Faust auf den Oberarm und bugsierte mich auf diese Weise rückwärts durch den Hof, bis ich vor dem Eingang zu meiner Kammer stand. »Du rührst dich nicht vom Fleck!«, befahl er Edmund, und dann fauchte er mich an: »Rein mit dir!«
Da Miller’s Court eine Sackgasse war und ich sowohl Michael als auch Edmund körperlich weit unterlegen war, blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu gehorchen. Gleichzeitig hielt ich nach irgendetwas Ausschau, das mir als Waffe dienen konnte. Einem Stein oder einem spitzen Stück Holz oder Eisen.
»Siehst du?«, sagte ich und deutete auf das Bett, wo Heather in unveränderter Haltung und mit geschlossenen Augen lag. »Sie wurde zusammengeschlagen und hat eine Gehirnerschütterung. Wir müssen uns beeilen.«
»Lebt sie noch?«, fragte er ungerührt und blieb in der Tür stehen.
»Sie ist ohnmächtig«, antwortete ich und war enttäuscht, weil es außer dem morschen Stuhl und der blechernen Waschschüssel nichts in dem Zimmer gab, mit dem ich mich gegen Michael zur Wehr setzen konnte. »Sie hat eine Wunde am Hinterkopf. Vielleicht ist ihr Schädel gebrochen.«
»Wo hast du sie gefunden?«
»In der Berner Street«, antwortete ich und war sehr auf der Hut, als ich hinzusetzte: »In Dutfield’s Yard.«
Tatsächlich zuckte Michael unmerklich zusammen. Sein Blick verfinsterte sich, und ich sah, wie er in seine Jackentasche griff. Doch er gab keinen Ton von sich, sondern stand nur breitbeinig in der Tür und schien zu warten.
»Hab ich mir gedacht, dass dich das interessiert«, sagte ich und beugte mich über Heather, um ihren kaum noch spürbaren Puls am Hals zu fühlen. Dabei sah ich die leere Brandyflasche. Sie lag auf dem Bett, zwischen Heathers Hüfte und der Steinwand und damit für Michael in dem funzeligen Kerzenlicht nicht zu sehen. Vermutlich war die Flasche aus der Manteltasche gefallen, als ich Heather auf die Matratze gelegt hatte.
»Berner Street?«, sagte Michael lauernd. »Da wurde Liz ermordet, oder?« Seine Hand steckte immer noch in der Jackentasche.
»Wer wüsste das besser als du«, erwiderte ich und ergriff heimlich den Hals der Flasche, bemüht, sie so zu halten, dass mein Körper sie verdeckte. »Schließlich warst du ja dabei.«
»Wer behauptet das?«, knurrte er und grinste plötzlich, als wäre ihm etwas Heiteres eingefallen. Als hätte er eine Entscheidung getroffen.
»Ein Ungar.«
»Oho!«, lachte Michael, »du hast den Star gelesen, was? Die Zeitung ist mir auch untergekommen. Schon merkwürdig, was sich diese Reporter so alles aus den Fingern saugen.«
Ich nickte und stand auf.
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