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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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aus seinem neuen Umfeld wusste, wer er war und was ihm widerfahren war. Er war nicht länger ein Jachtenmatrose oder Kannibale oder Kronzeuge oder Bühnendarsteller, sondern einfach der Dockarbeiter Edmund. Ein etwas merkwürdiger und verschrobener Kerl, der von den anderen Arbeitern ein wenig beäugt oder belächelt, aber in Ruhe gelassen wurde.
    Solange Michael an seiner Seite war.

SEPTEMBER/OKTOBER 1888
    3
    Natürlich gab es einige, die ihn vor Michael Kidney warnten. Ginger etwa, die hübsche rothaarige Hure von gegenüber, die ihn manchmal durchs Fenster zuschauen ließ, wenn ein Freier bei ihr lag. Oder auch Gingers Freund, der Fischträger Joseph, der unten am Fischmarkt von Billingsgate arbeitete. Sie nannten Michael ein dampfendes Pulverfass, das jederzeit hochgehen konnte, und bezweifelten, dass er sich nur aus Nächstenliebe so rührend um ihren eigenartigen Nachbarn kümmerte.
    Edmund brauchte diese gut gemeinten Ermahnungen und Ratschläge nicht, denn er ahnte durchaus, dass Michael nicht ohne Eigennutz handelte. Edmund war nicht so blauäugig, an Freundschaft oder gar Großmut zu glauben. Er war deshalb auch nicht überrascht, als Michael ihn aufforderte, das rückwärtige Brennholzlager, das zu Edmunds Wohnung gehörte, zu räumen und seiner Freundin Long Liz kostenlos zur Verfügung zu stellen. Edmund war froh, von Nutzen sein zu können, und ließ Michael, der Widerspruch ohnehin nicht hätte gelten lassen, über die Kammer verfügen.
    Auch die seltsamen Botengänge, die Edmund für Michael unternahm und bei denen er fest verschnürte Pakete in die eine Richtung und versiegelte Briefumschläge in die andere Richtung beförderte, störten Edmund nicht. Was in den Paketen und Briefen war, interessierte ihn nicht, solange Michael ihm anschließend auf die Schulter klopfte und ihn zur Belohnung auf ein Bier ins Britannia einlud.
    »Mein bester Mann«, so nannte Michael ihn manchmal im Scherz.
    »Ay, Master!«, antwortete Edmund dann mit ernster Miene.
    Vermutlich hatte Ginger recht, wenn sie behauptete, dass Michael ihn nur ausnutzte und für die eigenen Zwecke missbrauchte. Wenn es beispielsweise Ärger mit Long Liz gäbe, die oft betrunken war und wie ein Waschweib auf offener Straße herumkeifte, dann wäre Edmund als offizieller Hauptmieter wie ihr vermeintlicher Zuhälter erschienen und womöglich für ihre Eskapaden haftbar gemacht worden. Denn nur darum gehe es Michael, vermutete Ginger. Nichts anderes könne hinter dieser seltsamen Untervermietung stecken. Auch die Botengänge, von denen sie durch Joseph erfahren hatte, waren ihr suspekt. Wenn nämlich Edmund mit den geheimnisvollen Paketen in eine Polizeirazzia geriete, dann würde Michael bestimmt nicht für ihn in die Bresche springen, sondern seine Hände in Unschuld waschen. Darauf könne Edmund Gift nehmen.
    Edmund wusste all das oder spürte es zumindest, aber es war ihm egal, solange Michael ihn halbwegs anständig behandelte. Und das tat er. Auch wenn er ihn manchmal einen Trottel nannte und sich vor den anderen über ihn lustig machte. Worte konnten ihn nicht mehr treffen, darüber war er längst hinaus. Er hatte wieder eine Aufgabe, und Michael zählte auf ihn. Das allein war wichtig.
    Darum war es für Edmund auch kein Grund zur Besorgnis, als Michael ihm eines Tages auftrug, ein wachsames Auge auf seine beiden Weibsbilder zu haben, wie er es ausdrückte. Außer Long Liz, die er bei Edmund im Miller’s Court untergebracht hatte, gab es noch eine zweite Frau, Fanny Annie, für die er ein Zimmer in einer billigen Herberge in der Devonshire Street gemietet hatte und die er ebenfalls auf die Straße schickte, um für ihn anzuschaffen. Die beiden Frauen wussten nichts von der jeweils anderen, denn Michael schaffte es, seine freie Zeit so zwischen der Dorset Street in Spitalfields und der Devonshire Street in Mile End aufzuteilen, dass kein Verdacht aufkam. Edmund sollte den Aufpasser spielen und den Frauen in der Zeit, in der Michael anderweitig beschäftigt war, auf die Finger schauen und ihnen gerne auch mal auf dieselben hauen, wenn sie in Kneipen das Geld versoffen, statt es auf der Straße zu verdienen.
    Edmund fühlte sich geschmeichelt. Nicht nur weil er einer der wenigen war, die von Michaels Doppelleben wussten, sondern auch weil Michael ihm mit dem Auftrag ein schönes Springmesser mit dunklem Horngriff überreichte. »Falls die Weiber mal Zicken machen«, wie er grinsend hinzufügte.
    Mit Fanny Annie gab es nie Ärger. Sie

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