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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Haar tat sich bei den Salutistinnen hervor und baute sich vor Michael auf, als wollte sie es tatsächlich mit ihm aufnehmen. Michael sah schließlich ein, dass er nichts gegen diese zu allem entschlossenen Weibsbilder ausrichten konnte, doch er drohte, er werde in der Nacht wiederkommen und sich holen, was ihm gehöre.
    Edmund bezweifelte das. Das Frauenasyl hatte tatsächlich etwas von einer Burg – wie hätte Michael Liz aus dieser Festung locken sollen? An eine gewaltsame Stürmung des Asyls war nicht zu denken. Umso überraschter war er, als ihm sein Kompagnon am nächsten Morgen stolz mitteilte, er habe Liz aus der verdammten Weiberhölle befreit.
    Auf Edmunds Frage, wie ihm dieses Kunststück gelungen sei, antwortete Michael grinsend: »Mit Speck fängt man Mäuse.« Dann packte er Edmund plötzlich am Kragen und fauchte: »In Zukunft passt du besser auf, du Trottel! Damit das nicht noch mal passiert. Verstanden?«
    »Ay«, gab Edmund kleinlaut zurück, wich seinem Blick aus und bat zerknirscht um Verzeihung. »Kommt nicht wieder vor, Michael. Kannst dich auf mich verlassen. Das verspreche ich. Eher schneiden wir ihr die Gurgel durch, stimmt’s?«
    Michael stutzte. Dann lachte er wie über einen Witz, zuckte mit den Schultern und sagte: »Wenn’s sein muss!«
    Deshalb folgte Edmund Liz in der folgenden Nacht auf Schritt und Tritt. Von Kneipe zu Kneipe, rund um die Christ Church, wo Liz sich den Kerlen anbot oder etwas zu trinken erbettelte. Einmal verschwand sie mit einem Freier in einem Hauseingang neben dem Ten Bells, doch davon abgesehen war nicht viel los. Edmund beobachtete sie aus der Ferne und achtete darauf, unbemerkt zu bleiben. Nur für den Fall, dass sie in die Hanbury Street ginge, wollte er eingreifen und sich ihr in den Weg stellen. Sonst beließ er es bei der heimlichen Observation.
    Da das Geschäft in Spitalfields recht mau verlief, ging Liz nach einiger Zeit in Richtung Whitechapel, wo sie die Gegend zwischen der Commercial Road und den London Docks abgraste. Doch auch hier waren ihre Dienste kaum gefragt. Es war noch nicht so spät und die Kunden nicht betrunken genug, um sich mit einer heruntergekommenen Säuferin wie Liz einzulassen. Eher aus Mitleid bekam sie immer wieder ein Bier oder einen Schnaps spendiert, manchmal machte sie sich über die abgestandenen Reste in den Biergläsern her, bevor sie weggeräumt wurden. Schließlich, an der Ecke Berner und Fairclough Street, verschwand sie im Lord Nelson Pub und kam gar nicht wieder heraus. Als Edmund durch das Fenster schaute, sah er sie allein an einem Ecktisch sitzen und die Reste mehrerer Biergläser zusammenkippen.
    Edmund betrat das Lord Nelson und stellte Liz zur Rede. Doch sie lachte ihn nur aus und meinte, er solle sich gefälligst zum Teufel scheren. Auch die Erwähnung von Michael und das Vorzeigen des Messers, das er in der Innentasche seiner Jacke trug, hatten keinen Erfolg. Liz schüttelte lediglich den Kopf und beschimpfte Edmund als albernes Schoßhündchen, das gern ein Wachhund wäre. Aber wenn’s drauf ankäme, würde er doch den Schwanz einkneifen. »Das Messer kannst du getrost wegstecken«, keifte sie und winkte ab. »Weißt ja ohnehin nicht, wie man damit umgeht.«
    »Mit so einer Waffe hab ich schon einen Menschen zerlegt«, entfuhr es Edmund, bevor er sich auf die Lippen beißen konnte.
    Liz starrte ihn einen Moment lang verwundert an. Doch dann lachte sie und rief: »Sehr witzig! Hättest mich beinahe drangekriegt, Edmund! Und jetzt verpiss dich, du Schwachkopf!«
    Edmund hatte nicht wenig Lust, ihr das zahnlose Lächeln aus dem Gesicht zu prügeln. Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Kneipe. Es war bereits nach Mitternacht. Edmund überlegte eine Weile und entschied sich dann, Michael aus der Devonshire Street zu holen, die nur einen Steinwurf entfernt war. Dann würde Liz schon sehen!
    »Schwanz einkneifen!«, zischte er. »Von wegen!«
    Michael war offenkundig wenig erfreut, als Edmund vor der Tür stand. An dem hastig übergezogenen Hemd und der offenen Hose erkannte Edmund, dass er zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen war. Außerdem war Michael betrunken, wie seine Fahne und seine glasigen Augen verrieten. Als Michael jedoch hörte, was sein Besucher über Liz berichtete, schickte er Fanny Annie wieder ins Bett, zog sich an und ging torkelnd mit Edmund zur Berner Street. Er schaute durch das Fenster des Lord Nelson, sah Liz unverändert die Bierreste

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