Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
stammte aus Polen oder Russland und trieb sich die meiste Zeit in Mile End und Limehouse herum, wo viele ihrer Landsleute lebten und gern Huren nahmen, mit denen sie in ihrer Muttersprache reden konnten. Falls ihnen denn nach Reden zumute war. Annie war keine Trinkerin und überhaupt ein schlichtes Gemüt. Sie wollte so viel Geld wie möglich zusammenkratzen, um es ihrer kleinen Tochter zu schicken, die bei den Großeltern in der Heimat geblieben war. Annie träumte davon, ihre gesamte Familie nachzuholen und in einer hoffentlich nahen Zukunft ein neues Leben zu beginnen. Edmund zuckte nur mitleidig mit den Schultern, wenn sie ihm davon erzählte, und sagte kein Wort. Wer war er, ihr die Illusion zu nehmen? Sie würde früh genug erkennen, wie töricht ihre Träume waren.
Long Liz hingegen war ein Problem. Immer häufiger betrank sie sich, zettelte unnötig Streit an, vergrätzte durch ihr unflätiges Benehmen die Freier und wurde mehr als einmal wegen Trunkenheit oder Erregung öffentlichen Ärgernisses zur Polizeiwache gebracht. Einmal hatte sie Michael sogar wegen Tätlichkeit auf der Wache angezeigt, die Beschuldigung aber am nächsten Morgen, in nüchternem Zustand und übersät mit blauen Flecken, zurückgezogen. Hinzu kam, dass sie ständig das Blaue vom Himmel log und ein dreistes Märchen nach dem anderen erzählte, um kein Geld abgeben zu müssen. Mal war sie überfallen und ausgeraubt worden, ein anderes Mal hatte ein Polizist ein Bestechungsgeld verlangt. Oder eine unerklärliche kurzzeitige Unpässlichkeit hatte sie davon abgehalten, Geld zu verdienen. In Wirklichkeit jedoch hockte sie in den Kneipen und schüttete sich zu, bis sie auf allen vieren zum Miller’s Court kroch und in ihrer Bretterbude verschwand.
Liz wurde mit der Zeit zu einer Belastung, und immer wieder kam es deshalb zum handfesten Streit mit Michael. Und mit Edmund, der sich dafür verantwortlich fühlte, dass Liz parierte und keinen Unfug anstellte. Weil Michael ihm vertraute.
Eines Tages im September war Liz plötzlich verschwunden. Vermutlich hatte Michael sie einmal zu oft oder etwas zu heftig verdroschen, jedenfalls waren am nächsten Morgen ihre Sachen weg und sie selbst unauffindbar. Michael tobte und suchte alle Kneipen im East End ab, doch er konnte Liz nirgends finden, was ihn erst recht in Rage versetzte.
Edmund verstand nicht genau, warum Michael sich derart aufregte. Liz war mit ihren vierundvierzig Jahren, der runzligen Haut und den fehlenden Schneidezähnen nicht gerade eine Augenweide. Außerdem hatte sie in den letzten Wochen kaum noch etwas herangeschafft und war für alle ein einziges Ärgernis gewesen. Weder Michaels Schläge noch Edmunds Messer, mit dem er vor ihrer Nase herumgefuchtelt hatte, hatten daran etwas ändern können. Michael hätte eigentlich froh sein können, dass er Liz endlich losgeworden war. Denn dass Michael tatsächlich etwas für Long Liz empfand, das schien für Edmund nahezu ausgeschlossen. Liz war eine Plage, und einer Plage weinte man nicht nach.
Doch Michael behauptete, es gehe ums Prinzip. Er lasse sich nicht an der Nase herumführen, von niemandem, schon gar nicht von einem hässlichen Weibsstück. Eher werde er Liz die Gurgel durchschneiden, als ihr erlauben, sich ungefragt davonzumachen. Wenn, dann jage er, Michael, sie zur Hölle. Nicht umgekehrt!
Anschließend machte er Edmund Vorwürfe, weil er nicht ordentlich auf Liz aufgepasst habe. Das war natürlich ungerecht, denn Liz war mitten in der Nacht heimlich aus der Dorset Street davongeschlichen, nachdem Michael sie sich vorgeknöpft hatte. Wie hätte Edmund das allen Ernstes verhindern können? Doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit Michael darüber zu streiten. Wenn der seine Tobsuchtsanfälle hatte, war es besser, zu allem Ja und Amen zu sagen und das Donnerwetter über sich ergehen zu lassen. Sonst wurde alles nur noch schlimmer. Das hatte Edmund oft genug am eigenen Leib erfahren.
Schließlich brachte Michael eher zufällig in Erfahrung, dass Liz sich zur Heilsarmee geflüchtet hatte und sich bei den frommen Betschwestern vor ihm versteckte. Angeblich hatte sie dem Alkohol und den Männern abgeschworen und sich Gott zugewandt. Gemeinsam mit Edmund wollte Michael sie aus dem Haus in der Hanbury Street herausholen, doch sie wurden bereits an der Tür von einer Schar uniformierter Matronen abgewiesen.
»Kein Mann betritt dieses Haus!«, riefen sie und drohten mit der Polizei. Besonders eine junge Frau mit feuerrotem
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