Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
erschienen ihm rätselhaft, und viele von ihnen schüchterten ihn ein, aber er hasste sie nicht. Nicht wirklich. Auch Liz hatte er nicht gehasst, trotz der boshaften Worte und geringschätzigen Blicke, mit denen sie ihn immer wieder gedemütigt hatte. In gewisser Weise hatte Liz ihn behandelt, wie ihn schon Mary früher immer behandelt hatte: mit einer Mischung aus Verachtung und Spott. Als wäre er ein albernes Insekt, das nicht einmal wert war, zertreten zu werden. Doch das war nicht der Grund gewesen, warum er sie getötet hatte.
Nein, mit Rache, Vergeltung und verletztem Stolz hatte das nichts zu tun, da war sich Edmund sicher. Er hatte lediglich getan, was seine Aufgabe gewesen war. Wie damals im Dingi, als der Schiffskoch Ned den toten Jungen zerteilt hatte, damit die Mannschaft zu essen hatte. Wie man es von einem guten Smutje erwarten konnte. Er hatte Liz die Gurgel durchgeschnitten, weil Michael es ihm aufgetragen hatte. Nur zu diesem Zweck hatte er ihm schließlich das Messer gegeben. Auch wenn Michael das anschließend nicht wahrhaben wollte und Edmund einen gemeingefährlichen Irren nannte.
Wie sonst wäre es zu erklären gewesen, dass Michael mit ihm geflüchtet war und ihn anschließend nicht bei der Polizei verpfiffen hatte? Warum hätte er sonst all die Falschaussagen vor dem Gericht und gegenüber den Reportern machen sollen? Es wäre doch ein Einfaches gewesen, alles auf Edmund zu schieben und, wie Ginger es gesagt hatte, die Hände in Unschuld zu waschen. Warum also hatte er sich so verhalten?
Gewiss, Michael hätte nicht gut dagestanden, wenn die ganze Wahrheit über ihn und Long Liz herausgekommen wäre. Sein Verhalten war doch sehr verdächtig gewesen. Und womöglich hätte ihn das Gericht wegen seiner Beteiligung an der Tat sogar belangen können. Vor allem wenn Edmund dem Coroner seine Sicht der Dinge preisgegeben hätte. Doch der eigentliche Grund für Michaels Schweigen und seine Lügen war ein anderer: Edmund hatte seinen Befehl ausgeführt. »Zur Hölle mit ihr!« Er hatte Michael einen Gefallen getan. Davon war er fest überzeugt, und das ließ er sich auch von Michael nicht ausreden. Er wusste es schließlich besser.
Was in Dutfield’s Yard geschehen und wer letztendlich dafür verantwortlich war, spielte ohnehin keine Rolle mehr. Denn Jack the Ripper hatte Long Liz ermordet! Elizabeth Stride, wie sie plötzlich von allen genannt wurde. Jeder redete davon, niemand zweifelte daran. Ein Doppelmord! Was sonst?
Es war schon ein seltsamer Zufall, dass nur eine halbe Stunde nach Liz’ Tod eine weitere Frau getötet worden war. Nicht mal eine Meile von der Berner Street entfernt. Und weil der zweite Mord am Mitre Square so viel blutrünstiger ausgeführt worden war, konzentrierte sich fast alles auf diese Tat. Kaum jemand erkannte, dass Liz’ Tod nicht ins Muster passte. Die Leute sahen nur, was sie sehen wollten: Der Ripper war beim ersten Mord durch das herannahende Pferdefuhrwerk gestört worden und hatte sein blutiges Werk nicht vollenden können. Deshalb hatte er kurz darauf ein zweites Mal und diesmal so unfassbar barbarisch gemordet. Alles passte zusammen, alles ergab Sinn.
»Du hast wirklich mehr Glück als Verstand«, sagte Michael nach der Anhörung vor dem Coroner zu Edmund und fasste ihn hart am Handgelenk. »Komm also nicht auf die Idee, irgendwelchen Unsinn über mich oder Liz zu verbreiten. Du hältst dein Maul, sonst müsste ich nämlich andere Saiten aufziehen.«
»Ich schweig wie ein Grab«, antwortete Edmund und schaute zu Boden.
»Das will ich dir auch raten«, sagte Michael, griff in die Jackentasche und holte das Springmesser heraus. »Denk dran, ich hab immer noch das Messer. Wenn du deine Klappe nicht hältst, landest du ruckzuck am Galgen.«
Edmund verstand zwar nicht, was das Messer damit zu tun hatte, denn immerhin gehörte es Michael. Und es stand nicht im Griff eingraviert, wer Liz damit die Gurgel durchgeschnitten hatte. Wenn Michael jetzt zur Polizei ginge, säße er selbst ebenfalls in der Patsche. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen! Doch Edmund verstand die Warnung auch so. Wie er überhaupt Michael sehr gut verstand. Vermutlich besser, als der sich selbst.
Dass Michael sich in den folgenden Wochen auffallend zurückzog und den Kontakt zu Edmund auf das Notwendigste beschränkte, kränkte Edmund zwar, doch auch dafür hatte er Verständnis. Erst musste ein wenig Gras über die Sache wachsen, dann würde alles wieder sein wie zuvor. »Mein bester
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