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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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in der vergangenen Nacht geschehen war und dass nicht Rupert, sondern ein völlig Fremder in Ruperts Bett gelegen habe.
    »Ein Gentleman mit Zylinder und feinem Gehrock?«, fragte Michael und nickte wissend. »Ich sagte ja, er spielt ein doppeltes Spiel.«
    »Nein, kein Gentleman«, wunderte sich Edmund. »Ein stinkender Streuner mit verdrecktem Bart.«
    Michaels Blick verfinsterte sich. Er wirkte überrascht und ratlos, und das gefiel Edmund überhaupt nicht. Denn es machte ihn unsicher. Wenn nicht einmal Michael wusste, was zu tun war, dann war auf nichts mehr Verlass!
    »Was, zum Teufel, hat der Kerl vor?«, fragte Michael. »Was weiß er?«
    »Was soll er schon wissen?«, antwortete Edmund verwirrt.
    Michael sah aus, als wüsste er darauf eine Antwort, doch er zuckte mit den Schultern und sagte stattdessen: »Einen ganz schönen Schlamassel hast du da angerichtet! Verdammter Trottel!«
    Jetzt ging das wieder los, dachte Edmund, mied aber Michaels Blick und schaute aus dem Fenster. Der Nebel war inzwischen so dicht, dass nicht einmal die Christ Church auf der anderen Straßenseite zu sehen war. Selbst die Passanten vor dem Fenster waren nur als Schemen zu erkennen.
    »Der Kerl muss weg!«, sagte Michael schließlich und knallte das Bierglas auf den Tisch. »Weg mit ihm!«
    »Dafür müsste er erst mal wieder auftauchen«, meinte Edmund.
    »Glaub mir, das wird er«, antwortete Michael und bestellte noch eine Runde. »Und dann schnappen wir ihn uns!«
    »Wie Liz?«, fragte Edmund.
    »Wie Liz«, bestätigte Michael und zog die Augenbrauen hoch.
    Edmund starrte auf seine Finger und nickte.
    Es war weit nach Mitternacht, als sie schließlich das Britannia als letzte Gäste verließen. Der Wirt bugsierte sie auf die Straße und sperrte die Tür hinter ihnen zu. Edmund hatte zu viel getrunken und fühlte sich unsicher auf den Beinen. Wie bei einem ersten Landgang nach langer Zeit auf hoher See. Bei dem Nebel konnte man zudem kaum die Füße auf dem Boden sehen. Zum Glück hatten sie es nicht weit.
    Als sie die Dorset Street betraten, glaubte Edmund eine Bewegung hinter sich zu bemerken, doch als er sich umdrehte, war niemand zu sehen. Nur ein Straßenköter huschte knurrend um die Ecke.
    Im selben Augenblick stieß Michael ihn an und deutete in die entgegengesetzte Richtung. Edmund sah gerade noch, wie eine seltsam unförmige Gestalt den Durchgang zum Miller’s Court betrat.
    »Was war das?«, flüsterte Edmund erschrocken.
    »Das werden wir gleich wissen«, antwortete Michael ebenso leise.
    Sie gingen zum Durchlass und schauten in den Hof, der nur durch die Gaslaterne beschienen war. Trotz der schlechten Sicht erkannte Edmund, dass dort jemand eine andere Person auf den Armen trug. Wie die Muttergottes den toten Jesus, ging es ihm durch den Kopf. Dann war der Schatten hinter dem Gebäude verschwunden.
    »Wo sind sie hin?«, fragte Edmund.
    »Bestimmt nicht zum Scheißhaus«, lachte Michael.
    »Oh«, sagte Edmund.
    »Du sagst es!«, antwortete Michael.
    Sie mussten nicht lange warten. Schon nach kurzer Zeit bog der Schatten erneut um die Ecke und kam auf sie zu. Diesmal ohne zweite Person auf den Armen. Als er unter der Laterne stand, erkannte Edmund den Gentleman, trotz Mantel und Zylinder.
    »Na, wen haben wir denn da?«, fragte Michael spöttisch. »Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt.«
    Wie Liz, dachte Edmund und räusperte sich.

NEUNTER TEIL

    CELIA UND RUPERT
    »Then I sought the face of my soul,
and I saw upon its darkness the answer to my uttered question,
and I knew that I stood in the presence of him
who had done battle with love, Death.«
    (»Dann suchte ich das Angesicht meiner Seele,
und ich sah in seiner Dunkelheit die Antwort auf meine Frage,
und ich wusste, dass ich vor ihm stand,
der mit der Liebe gekämpft hatte, dem Tod.«)
    Simeon Solomon, A Vision of Love Revealed in Sleep, 1871

DONNERSTAG, 25. OKTOBER 1888
    1. CELIA BROOKS
    Celia hätte nicht genau sagen können, wie lange sie schon vor dem Britannia Pub stand und durchs Fenster in den verrauchten Schankraum schaute. Es erschien ihr wie Stunden, doch sie hatte jedes Zeitgefühl verloren und kam sich vor wie in einem Traum. Was auch durch den dichten Nebel ringsum verstärkt wurde, der alles unwirklich aussehen ließ. Womöglich hatte sie immer noch ein wenig Fieber, jedenfalls fuhren ihr in unregelmäßigen Abständen Schauer über den Rücken, als legte sich ihr eine kalte Hand in den Nacken. Mehrmals fuhr sie herum, weil sie tatsächlich

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