Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Mann!« Auch dass Michael keine Verwendung mehr für die Bretterbude hatte und Edmund mitteilte, er könne sie wieder als Brennholzlager benutzen oder anderweitig vermieten, leuchtete Edmund ein. Nichts sollte mehr an Long Liz erinnern. Michael schenkte ihm sogar die Matratze, die er für Liz besorgt hatte.
»So gut wie neu«, sagte er.
»Danke, Michael«, antwortete Edmund. »Für alles.«
Doch mit dem neuen Untermieter schien Michael ebenfalls nicht einverstanden zu sein. Bereits bei ihrer ersten Begegnung vor einer Woche hatte er ihn so komisch angeschaut, als wäre er ihm schon einmal über den Weg gelaufen. Erst durch Ginger hatte Edmund überhaupt erfahren, dass der Untermieter Rupert hieß, doch seltsamerweise war der Kerl schon in der nächsten Nacht verschwunden und blieb für einige Tage verschollen. Ebenso merkwürdig war es, dass Michael vor zwei Tagen im Hafen auf Edmund zugekommen war und ihm zu verstehen gegeben hatte, dass dieser Rupert ihnen hinterherspionierte und vermutlich ein Reporter oder Polizeispitzel war. Dass er jedenfalls nicht der war, für den er sich ausgab.
Edmund nickte nur und fragte: »Was soll ich tun?«
»Dem Kerl sollte man mal das Maul stopfen.«
»Verstehe«, sagte Edmund. »Hab ihn aber lange nicht gesehen.«
»Falls er noch mal auftaucht, knöpf ihn dir vor!«, meinte Michael und zog Edmund am Ärmel zu sich heran. »Auch zu deinem eigenen Interesse. Aber mach diesmal keinen Unsinn! Du sollst ihm nur das Maul stopfen, damit er verschwindet.«
Edmund nickte gehorsam.
In derselben Nacht hörte er ein lautes Schnarchen aus dem Bretterverschlag und ging nach hinten, um dem Schlafenden die befohlene Abreibung zu verpassen. Er öffnete lautlos die Tür zur Bude, schlich zum Bett und wollte diesem Rupert das Maul stopfen. Doch irgendetwas stimmte nicht. Der Kerl auf dem Bett stank wie ein Tier, nach Schnaps und Pisse, wie einer der Herumstreuner aus dem Itchy Park. Wie Edmund, bevor er Michael begegnet war. Als sich Edmunds Augen an das Dunkel in der Kammer gewöhnt hatten, erkannte er schemenhaft einen verfilzten Vollbart und eine riesige Runkelnase. Das war nicht Rupert!
Der Mann wurde wach, fuhr hoch und schrie erschrocken auf.
Edmund gab ihm eins aufs Maul. Für alle Fälle.
Der Vollbärtige brüllte wie ein Wahnsinniger, stieß Edmund zur Seite, rannte davon und ließ nur die Erinnerung an seinen bestialischen Gestank zurück.
Edmund war seit Tagen nicht im Britannia Pub gewesen. Genau genommen seit letztem Montag, als er für einen Moment plötzlich geglaubt hatte, seine Mary dort an einem Tisch am Fenster zu sehen. Zusammen mit Heather, Michaels neuer Freundin. Natürlich wusste Edmund, dass das unmöglich war. Denn die Mary hier, im Britannia, war genauso alt gewesen wie diejenige Mary, die er vor zwanzig Jahren im George Inn kennengelernt hatte. Als wäre die Zeit spurlos an ihr vorbeigezogen. Nur bleicher und abgemagerter war sie gewesen, wie eine Sterbenskranke.
Edmund glaubte eigentlich nicht an Gespenster, und mit Aberglauben hatte er nichts am Hut, und doch war es ihm, als wäre ihm Marys Geist erschienen. Das war die einzige sinnvolle Erklärung, die ihm einfiel. Entweder das, oder er begann, seinen Verstand zu verlieren. Doch wenn Mary eine Spukgestalt war, dann bedeutete das, dass sie gestorben war. Denn Lebende verwandelten sich nicht in Geister.
In den Tagen danach hatte er einen großen Bogen um das Britannia gemacht. So, wie er seit Jahren einen Bogen um das George Inn machte. Seit er vor vier Jahren wieder nach London zurückgekommen war, hatte er die Kneipe in Southwark nicht mehr betreten. Den gesamten Stadtteil auf der Südseite der Themse hatte er nach Möglichkeit gemieden wie der Beelzebub das Weihwasser. Und dennoch war es ihm nicht gelungen, seiner Vergangenheit zu entkommen. Marys Wiedergängerin hatte ihn angestarrt mit ihrem bleichen Gesicht und ihren großen Augen, die ihn damals so verzaubert hatten. Dieselben Augen, die ihn später voller Verachtung angeschaut hatten. Als wäre alles seine Schuld.
Ausgerechnet im Britannia wollte sich Michael nun mit ihm treffen. Wegen Rupert. Edmund wagte keinen Widerspruch. Zum Glück waren weit und breit keine Geister auszumachen. Heather war irgendwo in Whitechapel unterwegs, um Geld anzuschaffen, und von der vermeintlichen Mary war ebenfalls nichts zu sehen. Nur ein dummes Hirngespinst, sagte Edmund zu sich, glaubte aber den eigenen Beschwörungen nicht so recht.
Edmund berichtete Michael, was
Weitere Kostenlose Bücher