Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
nächsten Augenblick wurde sie an der Hand gegriffen und zur Seite gezerrt. Und ehe Celia wusste, wie ihr geschah, war sie dem Zug entkommen. Adam hatte sie hinausgezogen. Der schwarz gekleidete Mann schaute sich noch einmal zu ihr um, bevor er samt Korb in der Menge verschwand, die sich wie eine Lawine weiter nach Westen wälzte.
»Ist das immer so bei euren Märschen?«, fragte sie Adam. Sie wartete seine Antwort nicht ab, wischte sich ein klebriges Salatblatt von der Schulter und beeilte sich, von der Straßenecke und dem unseligen Marsch der Heilsarmee fortzukommen.
Adam hielt ihre Hand fest und folgte ihr. »Tut mir leid«, antwortete er schuldbewusst. »Ich kann mir auch nicht erklären, warum die Leute so feindselig sind. Glaub mir, ich wusste nicht, dass es so schlimm wird. Normalerweise belassen sie es bei Spottgesängen. Ich wollte zu dir, aber in dem Gedränge war das nicht möglich. Geht’s wieder?«
Celia nickte, atmete tief durch und blieb stehen. Sie blickte dem Fackelzug hinterher, dessen letzte Teilnehmer gerade in die Church Street einbogen. Einige Kinder nahmen das liegen gebliebene Gemüse von der Straße und machten sich einen Spaß daraus, es den unverdrossen Singenden und Marschierenden hinterherzuwerfen. Ein Stück Sacktuch, das auf dem Pflaster lag, erinnerte Celia an den vermummten Mann mit dem verhängten Korb. Ihr Zeigefinger blutete ein wenig an der Kuppe, und die Wunde brannte.
In diesem Moment bemerkte auch Adam die Blessur. »Was ist passiert?«, fragte er und hob ihren Finger ins Licht der Straßenlaterne. »Du blutest ja. Hast du dich verletzt?«
»Es ist nichts«, antwortete Celia geistesabwesend und entwand ihm ihre Hand. Der Mann mit dem Muttermal auf der Wange wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Gestern war er wie ein Gentleman gekleidet gewesen, mit Biberfell-Zylinder und edlem Gehrock, und hatte den Droschkenkutscher angewiesen, zur vornehmen Piccadilly in Westminster zu fahren. Heute hingegen lief er im ärmlichen East End in einer Tracht aus einfachem Manchester-Stoff herum, die an grobe Zimmermanns- oder Seemannskleidung erinnerte. Hätte Celia nicht das Muttermal gesehen und das Erkennen im Blick des Fremden, so hätte sie vermutlich gedacht, zwei verschiedene Männer getroffen zu haben. Doch es konnte kein Zweifel bestehen: Der Gentleman und der Schwarzgekleidete waren ein und dieselbe Person. Celia fühlte sich an die Schauernovelle von Dr. Jekyll und Mr. Hyde erinnert, die ihre Mutter vor einiger Zeit aus der Pfarrbücherei entliehen hatte und in der es um eine ähnliche Wandlung eines vornehmen Gentlemans gegangen war. Die Geschichte hatte ihrer ohnehin geschwächten Mutter nächtelang den Schlaf geraubt.
»Komm!«, riss Adam sie aus ihren Gedanken und deutete nach Norden, zur Hanbury Street. »Ich bringe dich zurück ins Heim.«
»Gibt es von hier aus keinen anderen Weg zum Ten Bells Pub?«, erwiderte sie und rührte sich nicht vom Fleck.
»Doch, den gibt es«, antwortete er überrascht. »Wir könnten den Umweg über die Hanbury Street gehen oder den direkten Weg über den Friedhof von Christ Church. Der reicht nämlich bis zur Brick Lane. Gleich da vorne befindet sich der Hintereingang. Wieso fragst du?«
»Begleitest du mich?«
»Über den Friedhof?«
»Macht es dir etwas aus?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte er und wies auf eine unscheinbare Eisenpforte zwischen zwei backsteinernen Häusern, die nur einen Steinwurf von der Straßenecke entfernt war. »Ich verstehe bloß nicht.«
»Ich auch nicht«, entgegnete Celia und lachte unwillkürlich. Vielleicht weil sie sich selbst nicht eingestehen wollte, dass der junge Mann mit dem Muttermal der eigentliche Grund ihres seltsamen Handelns war.
Adam sah sie verwirrt an und schien einen erneuten Ausbruch zu befürchten, doch dann zuckte er mit den Schultern und meinte: »Es freut mich, dass du so erpicht darauf bist, Schwester Eva reden zu hören. Du wirst es nicht bereuen. Komm mit!«
Celia verschwieg, dass es nicht die Redekunst der Heilsarmistin war, deretwegen sie zum Ten Bells Pub wollte. Sie war sich auch nicht sicher, ob sie ihre Entscheidung nicht in Kürze bereuen würde. Dennoch folgte sie Adam über die Straße und zum Hintereingang des Kirchhofs.
Direkt hinter der Eisenpforte begann eine kopfsteingepflasterte Passage, die zwischen zwei hohen Mauern zum rückwärtigen Teil des Friedhofs führte. Zwischen den Häusern war es stockdunkel, doch als sie den Totenacker betraten, erkannte Celia
Weitere Kostenlose Bücher