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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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inzwischen ebenfalls zur Tat geschritten und hatten das, was sich in den Körben befunden hatte, freigelassen. Mit einem Mal wurden entsetzte Aufschreie laut: »Ratten! Pfui Teufel, wo kommen die vielen Ratten her! Weg da! Igitt!« Das Schreien der Menschen mischte sich mit dem Fiepen und Quieken der panischen Tiere, die umherrannten und in ihrer Not um sich bissen oder an den Beinen der Leute hochsprangen, was den allgemeinen Tumult noch verstärkte. Menschen prallten gegeneinander; manche von ihnen stürzten, andere trampelten und stolperten über die Gestrauchelten hinweg.
    Inmitten des Durcheinanders und Geschreis verharrten zwei Menschen regungslos, als hätten sie Wurzeln geschlagen. Schwester Eva verharrte reglos wie eine Statue auf ihrem Podest. Ihr gegenüber, am Fuß der Stiege, stand der Mann mit dem Herz auf der Wange und schaute unverwandt zu ihr hinauf. Celia sah, dass der Korb in seiner Hand immer noch mit einem Sacktuch verhängt war.
    Selbst als Lehmklumpen und Steine vom Dach der Schänke flogen und die Leute ihren Kopf einzogen und in Deckung gingen, stand Eva Booth noch wie ein Fels in der schäumenden Brandung und schaute um sich, als könnte sie nicht begreifen, was vor sich ging. Doch plötzlich wurde sie von einem Stein an der Stirn getroffen. Die Predigerin wankte, ließ die Fackel fallen, und für einen Augenblick sah es so aus, als würde sie vom Podest stürzen.
    Adam stieß einen Schrei aus. Als Celia ihn anschaute, bekam sie einen nicht geringen Schreck. In seine Augen war ein bedrohliches Funkeln getreten, das so gar nicht zu dem besonnenen und gutmütigen Mann passte, als den sie Adam bislang kennengelernt hatte. Der Ausdruck in seinem Gesicht erinnerte sie an die Raserei ihres Vaters, wenn er sich volltrunken und vor Wut schnaubend auf ihre Mutter gestürzt hatte.
    Adam war völlig außer sich. Noch bevor Celia ihn zurückhalten konnte, sprang er kurzerhand von der Mauer ins Getümmel, obwohl es für ihn kaum eine Möglichkeit gab, sich bis zum Podest durchzukämpfen.
    Dabei schien es gar keine Notwendigkeit für sein Eingreifen zu geben. Der Mann mit dem Korb war bereits die Stufen hinaufgesprungen, um Eva aufzufangen. Doch dann geschah etwas Seltsames: Die Heilsarmistin, der das Blut übers Gesicht lief, fand das Gleichgewicht wieder, schüttelte sich, als wäre sie aus einem Traum aufgewacht, und verpasste dem Mann, der ihr zu Hilfe kommen wollte, eine schallende Ohrfeige, sodass dieser rücklings vom Podest fiel und auf dem eigenen Korb landete. Das Weidenholz splitterte, die Ratten sprangen heraus und stürzten sich auf den Mann, als wollten sie ihn auffressen. Celia hörte ihn schreien.
    Im nächsten Augenblick spürte Celia eine Hand auf ihrer Schulter. Als sie erschrocken herumfuhr, schaute sie in das grinsende Gesicht von Heather.
    »Was für ein Spektakel!«, sagte Heather. »Hab nicht zu viel versprochen, oder?« Ihre Wangen waren gerötet, der Blick war glasig, und ihr Atem roch nach Alkohol. »Aber jetzt lass uns verschwinden, Kindchen! Bevor die Ratten kommen. Hab keine Lust auf die Mistviecher!«
    »Wo willst du hin?«, fragte Celia.
    »Nach Shoreditch.«
    »Jetzt?«
    »Warum nicht?« Heather zuckte mit den Schultern. »Es ist ja nicht weit. Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch rechtzeitig zur zweiten Vorstellung. Aber du zahlst.«
    Celia zögerte, doch Heather hatte sie bereits an der Hand gefasst und zog sie hinter sich her, die Stufen hinunter.
    »Nun zier dich nicht so!«, rief Heather. »Kostet ja nur ’nen Penny.«
    Celia nickte und fügte sich in ihr Schicksal.

ZWEITER TEIL

    RUPERT INGRAM
    »In real life, how many men and women fall in love?
    Not one in every ten thousand, I am convinced. Not one married pair in ten thousand have felt for each other as two or three couples do in every novel. There is the sexual instinct, of course, but that is quite a different thing; the novelists daren’t talk about that.«
    (»Wie viele Männer und Frauen verlieben sich im wirklichen Leben? Nicht einer von zehntausend, davon bin ich überzeugt. Nicht eines von zehntausend Ehepaaren hat jemals füreinander empfunden, was zwei oder drei Paare in jedem Roman füreinander empfinden. Es gibt natürlich den sexuellen Trieb, aber das ist etwas völlig anderes; darüber wagen die Romanschriftsteller nicht zu reden.«)
    George Gissing, »The Odd Women«, 1892

DONNERSTAG, 18. OKTOBER 1888
    1
    Wie immer, wenn ich von Dorking nach London zurückkehrte, hatte ich fürchterlich

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