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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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genommen widersinnig war, denn um nichts in der Welt hätte ich mit den Heilsarmisten tauschen wollen, doch dass sie stets mit einem wie eingemeißelten Lächeln durch die Welt wandelten und mit Inbrunst ihren frömmlerischen Unfug verbreiteten, nahm ich ihnen beinahe persönlich übel. Das Dumme war nur, dass die Aktionen der Skeletons mir ebenso wenig Befriedigung verschafften. Das »Soldatenspielen« erschien mir kindisch und albern und diente mir lediglich dazu, Dampf abzulassen. Was mir allerdings an diesem Freitagabend als Vorwand vollends genügte.
    Mr. Waldron hatte sich für diesen Tag tatsächlich etwas Besonderes einfallen lassen. Als ich in meinem Cord-Anzug das Hinterzimmer des Ten Bells betrat, empfing mich neben einer ganzen Hundertschaft von Skeletten auch ein seltsames Fiepen und Kratzen, das von einem guten Dutzend Körben herrührte, in denen sich zahlreiche Ratten befanden, die in den letzten Tagen in den Gossen, Kellern und Kanälen der Gegend gefangen und seitdem nicht gefüttert worden waren.
    Die Anführer der Skeleton Army hatten sich etwas wirklich Perfides ausgedacht. Da die Heilsarmee ihre Kundgebung direkt vor dem Ten Bells abhalten wollte, dem »Zentrum des teuflischen Lasters«, wie sie es nannten, beabsichtigte die Gegenseite, die Church Street zu einer Sackgasse und Falle zu machen. Ein Trupp sollte am Kopfende den Zugang zur Commercial Street versperren, ein zweiter am hinteren Ende des Umzugs die Rückzugsmöglichkeit zur Brick Lane unterbinden, eine dritte Gruppe sollte auf dem Dach des Ten Bells verharren und im gegebenen Moment die Versammlung mit Teer- und Kalklappen sowie faustgroßen Steinen bewerfen, und eine vierte Abteilung war dazu auserkoren, mit dem Zug zu marschieren, sich so dicht wie möglich an das Rednerpodest heranzuarbeiten und dort die ausgehungerten und bisswütigen Nager freizulassen. Eine beinahe generalstabsmäßig organisierte Aktion, die mir zumindest originell erschien. Und weil es mich in meiner streitsüchtigen und destruktiven Laune nach der Unmittelbarkeit der Konfrontation dürstete, meldete ich mich als Freiwilliger für die Ratten-Truppe. Auch auf die Gefahr hin, vom Dach aus von den eigenen Leuten beworfen und von den widerlichen Viechern in ihren verhängten Käfigen gebissen zu werden.
    Gemeinsam mit Simeon, der sich ebenfalls – allerdings ohne Rattenkiste – für den zentralen Störtrupp gemeldet hatte, begab ich mich zum südlichen Ende der Brick Lane und wartete in der Dunkelheit auf das Eintreffen des Fackelzugs. Als die Heilsarmisten schließlich mit scheppernder Blasmusik und feierlichem Gesang die Whitechapel Road überquerten, reihten wir uns in den Zug ein und stellten schadenfroh fest, dass die Frömmler auch von anderen, nicht-organisierten Anwohnern und Gaffern mit faulem Gemüse und beißenden Spottgesängen bedacht wurden. Ein Wettstreit der Stimmen und Chöre begann, aus dem sich die Skeletons jedoch wohlweislich heraushielten. Mr. Waldron hatte der Rattenfraktion dringend aufgetragen, sich unter keinen Umständen zu erkennen zu geben und im wörtlichen Sinne bedeckt zu halten, bis der Zug das Ten Bells erreicht hatte und das Signal zum Angriff gegeben worden war. So zogen wir in geschlossenen Reihen inmitten der Heilsarmisten und ihrer Anhänger in Richtung Church Street und achteten lediglich darauf, den Kopf des Zuges nicht aus den Augen zu verlieren.
    Als der Fackelzug die Stelle erreicht hatte, an der die Church Street linker Hand von der Brick Lane abbog, gab es ein fürchterliches Gedränge und Geschiebe, auch weil die Skeletons niemanden durch ihre Reihen lassen wollten und es daraufhin zu plötzlichen Engpässen und Stockungen kam. Ich achtete so sehr darauf, mich direkt neben Simeon zu halten, ohne mich an dessen Petroleumlampe zu versengen, dass ich gar nicht bemerkte, wie sich plötzlich ein junges Mädchen panisch an mir vorbeidrängte. Mit einem Mal schrie das Mädchen auf und sprang erschrocken zur Seite, wobei es mich beinahe zu Boden stieß. Im letzten Moment konnte ich ausweichen, doch der Schal, den ich mir um das Gesicht gewickelt hatte, rutschte herunter, wodurch ich für einen kurzen Moment dem Mädchen Auge in Auge gegenüberstand. Es schaute mich verwundert an und sagte etwas, das ich wegen des Lärms nicht verstand.
    »Was gibt’s da zu starren?«, fauchte ich verärgert, bevor ich mit einem Mal erkannte, wer da vor mir stand. Es war dasselbe Mädchen, das ich gestern am Bahnhof Waterloo angerempelt

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