Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
und das sich beim Kutscher nach dem Weg ins East End erkundigt hatte.
»Soll ich mich wieder schleichen, Sir?«, fragte es, war aber im nächsten Augenblick verschwunden. Als ich es im Gedränge endlich wieder erblickte, stand das Mädchen am Rand des Zuges und redete eindringlich auf einen jungen Heilsarmisten ein, der mit abwehrender Hand und in geduckter Haltung vor ihr stand.
»Wer war das?«, wollte Simeon wissen, der sich ebenfalls umschaute, während wir gleichzeitig vom Strom mitgerissen wurden.
»Keine Ahnung«, antwortete ich und zog mir den Schal vors Gesicht.
»Irgendwo hab ich das Gesicht schon mal gesehen«, sagte Simeon, der weder Schal noch Tuch trug, weil sein dichter Rauschebart und der in die Stirn gezogene Hut Vermummung genug boten. »Bist du sicher, dass du sie nicht kennst?«
»Es ist niemand«, brummte ich und wunderte mich erst jetzt über seine Bemerkung. »Wo hast du das Gesicht schon mal gesehen?«
Er zuckte mit den Schultern und deutete mit der Lampe nach vorne, wo der Kopf des Zuges vor dem Ten Bells Pub angekommen war. »Es geht los«, sagte er. »Bist du bereit?«
»Bereit zu sterben«, zitierte ich ein Motto der Heilsarmisten und lachte.
Nach und nach versammelte sich der Fackelzug vor dem Ten Bells, und da von hinten immer mehr Menschen nachdrängten, entstand ein dichtes Gewühl, das auch dadurch verstärkt wurde, dass die Skeletons den Zugang zur Commercial Street wie geplant mit einem Kordon blockierten. Mit einem kurzen Blick nach oben vergewisserte ich mich, dass auch die Dreck- und Steinewerfer auf dem Dach der Schänke in Position waren. Alles wartete nur noch auf das Signal zum Angriff.
Im selben Augenblick kam es mir vor, als wachte ich aus einem absurden Traum oder benebelnden Rausch auf. Und wie bei einem solchen Erwachen wusste ich nicht, was Trugbild oder Realität war. Was, um alles in der Welt, machte ich hier? Was sollte dieser Unsinn? Und plötzlich hörte ich meinen Bruder William wieder sagen: »Werd erwachsen, Rup!« Das alles war so dumm und unnütz, so unausgegoren und abstrus! Die beschämende und ernüchternde Erkenntnis durchfuhr mich wie ein Blitzschlag.
»Ich muss hier raus!«, rief ich Simeon gegen den Lärm zu. »Sofort!«
»Vergiss es!«, war alles, was er darauf antwortete.
Simeon hatte recht. An ein Fortkommen war gar nicht zu denken, denn ich war umringt von mehreren hundert Menschen. Zudem befand sich auf der einen Seite der Straße das Ten Bells und auf der anderen die Kirche von Christ Church, und die Church Street war in beiden Richtungen abgeriegelt. Ich saß mit in der Falle, die eigentlich für die Heilsarmisten gedacht war. Direkt vor mir befand sich das hölzerne Podest, auf dem sich nun eine uniformierte Rednerin für ihren Auftritt wappnete. Die klägliche Blasmusik verstummte, die Chöre ebbten ab, sogar die Spottgesänge legten eine Pause ein.
Ich schaute zur Bühne und war plötzlich wie gebannt. Der Anblick der jungen Frau, die auf dem Podest die Arme zum Himmel streckte und mit glühendem Eifer von Gottes Liebe zu den Armen und Ausgestoßenen predigte, ließ mich erstarren. Ich wusste selbst nicht genau, warum ich mich plötzlich wie verhext fühlte. Gewiss, die Frau war ausgesprochen hübsch, und ihre roten Locken leuchteten im Fackelschein wie Feuer, doch in der plumpen Uniform der Heilsarmee kamen ihre weiblichen Reize kaum zur Geltung. Dennoch hatte diese Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, eine enorme und kaum zu erklärende Wirkung auf mich. Es war nicht allein ihr Aussehen und erst recht nicht das selbstgerechte Gerede von Rettung und Erlösung, das mich so faszinierte, es war etwas in ihrem Blick und ihrer Haltung, das mir Respekt einflößte. Einerseits erkannte ich das übliche selige Narrenlächeln in ihrem Gesicht, aber zugleich fand ich darin eine Entschlossenheit, die selbst für Heilsarmisten erstaunlich war und ansteckend wirkte. Und es kam mir so vor, als verstärkte dieses wilde Temperament noch ihre naturgegebene Schönheit.
»Wer ist diese Frau?«, wandte ich mich an Simeon.
»Du kennst sie nicht?«, wunderte er sich und ging in Deckung, weil von irgendwo ein Ei geflogen kam. »Das ist Eva Booth. Die Tochter des Generals.«
Wieder schaute ich zum Podest und verfolgte die Predigt mit zunehmend ernster Miene. Ich hatte schon viel über Eva Booth gehört und so manches gelesen, auch Mr. Waldron hatte die Generalstochter oft erwähnt und schien sie für eine Inkarnation seines ärgsten Feindes
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