Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Ich lächelte ihn aufmunternd an und sagte: »Ich habe Zeit und werde warten. Vielen Dank!« Damit verließ ich das Hauptquartier und trat hinaus auf die Queen Victoria Street, auf der sich die Kutschen, Handkarren und sonstigen Fuhrwerke in mehreren Spuren drängten und den Fußgängern das Überqueren der Straße beinahe unmöglich machten.
Vom Eingang des Hauptquartiers hatte man einen direkten Blick zur mächtigen Kathedrale von St. Paul, deren riesige Kuppel mit dem darunterliegenden Säulengang im Morgenlicht strahlte. Ich setzte mich in unmittelbarer Nähe auf den Gehweg, lehnte mich an eine Gaslaterne und zündete mir eine Zigarette an. Das Rauchen beruhigte mich und meinen knurrenden Magen, der außer einem Schluck Wasser noch nichts beinhaltete. Ich schob mir den Hut in den Nacken und schaute dem Treiben auf der Straße und dem Gewimmel auf dem Gehsteig zu.
Zwischen den ratternden Droschken, mehrspännigen Lastkutschen und überladenen Handkarren der fliegenden Händler sah ich ein einzelnes Hochrad, das auf dem holprigen Pflaster bedrohlich hin und her schwankte. Immer wieder hörte man von Unfällen, bei denen Radfahrer unter die Pferdehufe oder Kutschräder gerieten und dabei schwer verletzt wurden. Es gab nicht wenige Stimmen, die sich dafür aussprachen, die gefährlichen Ungetüme gänzlich aus der Stadt zu verbannen und nur noch bei Wettrennen zuzulassen. Mein Bruder Mortimer war ein passionierter Radfahrer, der schon manches Rennen im Westminster Aquarium bestritten hatte. Für ihn war sein geliebtes Hochrad allerdings ausschließlich ein Sportgerät, und niemals wäre er auf die absurde Idee gekommen, es auf einer befahrenen Straße zu benutzen.
Der Gedanke an Mortimer erinnerte mich schlagartig daran, dass ich sehr bald meiner Familie gegenübertreten und ihr meine Entscheidung mitteilen musste. Denn an dieser folgenschweren Entscheidung hatte sich seit der vergangenen Nacht nichts geändert. Die Tatsache, dass ich inzwischen eine Unterkunft – so ärmlich sie auch sein mochte – in Spitalfields gefunden hatte, beflügelte mich regelrecht und ließ in mir die Überzeugung wachsen, dass ich auch eine mir genehme und zu bewältigende Arbeit finden würde. Ich konnte mir lebhaft ausmalen, wie meine Familie reagieren würde: William würde mir ins Gewissen reden, Mortimer mich für verrückt erklären und Vater einen Tobsuchtsanfall bekommen. Sie würden mir die vermeintlichen Flausen auf ganz unterschiedliche, aber sehr bestimmte Weise auszutreiben versuchen. Doch das konnte mich nicht schrecken. Nicht einmal der Verlust der Erbschaft und meines Namens taugte als Menetekel an der Wand. Das redete ich mir zumindest ein.
Seitdem ich beschlossen hatte, Tabula rasa zu machen und meinen Nächsten reinen Wein einzuschenken, fühlte ich mich erstaunlich beschwingt und voller Tatendrang. Die allgemeine Lustlosigkeit, die ich so lange mit mir herumgeschleppt hatte, war einer Euphorie gewichen, die ich mir selbst nicht erklären konnte. Natürlich sah ich meine Zukunft nicht in einem Elendsviertel im East End. Meine Gegenwart war mehr als ungewiss, aber dass ich mit meiner Vergangenheit als Hotelerbe und angehender Bräutigam abgeschlossen hatte, beglückte mich geradezu. Denn als solche betrachtete ich mein bisheriges Leben: als Vergangenheit!
»He, du da!«, wurde ich durch einen Tritt gegen meinen Unterschenkel aus meinen Gedanken gerissen. »Aufstehen! Aber ein bisschen plötzlich!«
Über mir stand ein Polizist in seiner dunklen Uniform, den schmalen Schlagstock in der Hand und den runden Bobby-Hut tief in die Stirn gezogen. Wieder gab er mir einen Tritt mit dem Stiefel.
»Seit wann ist es verboten, auf dem Bordstein zu sitzen?«
»Seit ich das sage«, antwortete der Police Constable mürrisch und klopfte sich mit dem Schlagstock auf den Oberschenkel. »Scher dich weg! Wir wollen hier kein Gesindel auf der Straße. Geh dahin, wo du hergekommen bist!«
»Vielleicht bin ich ja von hier?«, antwortete ich und rappelte mich auf.
»So siehst du aus, Bursche!«, höhnte der Polizist, der inzwischen von einigen interessierten Passanten umgeben war.
»Ich warte auf jemanden«, antwortete ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Aber nicht hier! Nicht in meiner Straße.«
»Die Queen Victoria Street ist Ihre Straße?«
Er nickte bedeutsam, zupfte sich am Schnurrbart, dessen gedrillte Enden nach oben zeigten, und sagte: »Lumpenpack und Bettler dulde ich hier nicht.«
»Ich bin kein
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