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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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der anglikanischen Kathedrale und unweit des Londoner Finanzzentrums stand, erschien mir einerseits erstaunlich und unpassend, zeugte aber andererseits vom enormen Selbstbewusstsein der einstigen Splittergruppe, die sich inzwischen zu einer weltweit operierenden Organisation gemausert hatte. Dieses stolze Selbstgefühl drückte sich auch in den riesigen gelben Lettern aus, die an der gesamten Fassade der Nummer 101 prangten: THE SALVATION ARMY INTERNATIONAL HEADQUARTERS. Das vierstöckige Gebäude war ein einziges Spruchband und schrie regelrecht hinaus, wer hier das Zepter schwang.
    Vor wenigen Jahren noch hatte das unscheinbare Domizil der Heilsarmee an der Whitechapel Road im East End gelegen. Doch inzwischen galten die Tugenden der Bescheidenheit und Mäßigung offenbar nur noch für die Soldaten und Anhänger, nicht aber für die Organisation selbst. In Kriegszeiten, in denen sie sich zu befinden glaubte, war es scheinbar wichtig, mit lauter Stimme zu sprechen und Flagge zu zeigen. Deshalb hieß ihre Zeitung The War Cry , und deshalb unterhielten sie kein Büro, sondern ein Hauptquartier mitten im Reich des Feindes.
    Der Eingangsbereich war, gerade im Vergleich mit der schreienden Fassade, auffällig unscheinbar eingerichtet. In gewisser Weise erinnerte er mich an das improvisierte Foyer unseres Hotels in der Dover Street. Auch hier gab es eine winzige Lobby mit wenigen Sitzgelegenheiten und einen brusthohen Empfangstisch, hinter dem ein uniformierter Mitarbeiter saß, der alle Ankommenden mit einem pflichtbewussten Lächeln empfing. Allerdings wäre ich in der derben, mit Kalk und Kot beschmutzten Kleidung, die ich an diesem Morgen trug, im Crown Hotel nicht ganz so zuvorkommend behandelt worden wie bei den Salutisten der Heilsarmee.
    »Kann ich helfen, Sir?«, fragte der Mann hinter der Theke und lächelte, als wäre es tatsächlich sein einziger Lebenssinn, anderen Menschen beizustehen.
    »Ich möchte zu Captain Eva Booth«, sagte ich und lüpfte den Schlapphut.
    »Aha«, sagte er, und sein Lächeln wurde etwas kritischer. »Und in welcher Angelegenheit, wenn ich fragen darf? Oder haben Sie einen Termin?«
    Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Es geht um eine Ohrfeige.«
    »Ich bitte um Entschuldigung?«, erwiderte der Heilssoldat, neigte den Kopf und schaute mich über den Rand seiner Eisenbrille misstrauisch an.
    »Das möchte ich gern unter vier Augen mit dem Captain besprechen.«
    »Captain Eva ist sehr beschäftigt. Dafür haben Sie sicherlich Verständnis.«
    »Sie ist also im Haus?«, folgerte ich aus seinen Worten.
    Er nickte und wiederholte: »Aber sie ist wirklich sehr beschäftigt, Sir. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Sie könnten mir eine Nachricht für sie hinterlassen«, erwiderte er lächelnd. »Ich würde persönlich dafür Sorge tragen, dass sie dem Captain bei nächster Gelegenheit zugestellt wird.« Er machte eine möglichst verbindliche Miene und schob sich die Brille auf der Nase zurecht, obwohl sie gar nicht verrutscht war.
    Für einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob ich einfach am Empfangstisch vorbeigehen und durch den angrenzenden Flur und die Schwingtür das Hauptquartier betreten sollte, doch das Gebäude war riesig, und überdies wimmelte es von uniformierten Menschen. Es war undenkbar, Eva Booth zu finden oder auch nur in ihre Nähe zu gelangen, ohne vorher von Heilssoldaten umstellt und auf die Straße gesetzt zu werden. Daher nickte ich schließlich und bat um ein Blatt Papier und einen Stift.
    Ich überlegte kurz und schrieb: »Werter Captain! Wenn Sie mir eine weitere Ohrfeige geben wollen, werde ich gern meine andere Wange hinhalten. Satan.« Das sollte reichen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Anschließend faltete ich das Papier und notierte außen: »Für Captain Eva Booth. Persönlich.«
    »Wollen Sie auf eine Antwort warten?«, fragte der Heilsarmist, nahm die Nachricht in Empfang und deutete auf die Stühle, die vor den Fenstern zur Straße standen. »Es kann allerdings eine Weile dauern. Vielleicht notieren Sie besser Ihre Anschrift auf dem Zettel?«
    Ich schüttelte erneut den Kopf und sagte: »Ich warte draußen auf der Straße.« Das war zwar nicht so bequem, aber es erschien mir sinnvoll, Eva Booth nicht auf ihrem eigenen Terrain, sondern quasi auf neutralem Boden zu begegnen.
    »Es kann allerdings eine Weile dauern«, wiederholte er und hob bedauernd die Achseln. »Captain Eva ist …«
    »Sehr beschäftigt, ich weiß.«

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