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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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plötzlich auf das Muttermal auf meiner rechten Wange und sagte: »Sie sollten damit zu einem Arzt gehen. Die Wunde eitert und hat sich entzündet.«
    »Es ist nichts«, wiegelte ich ab. »Nur ein Rattenbiss.«
    »Daran habe ich Sie erkannt.«
    »Woran?«
    »An Ihrem Kainsmal.«
    »Kainsmal?«, entfuhr es mir, und wider Willen musste ich lachen. »Aber ich habe niemanden ermordet! Schon gar nicht meinen Bruder.«
    »Doch, das haben Sie!«, erwiderte sie, und ihr Blick verhärtete sich. »Wir sind alle Brüder und Schwestern, denn Gott ist unser gemeinsamer Vater. Und Sie haben eine unserer Schwestern auf dem Gewissen.«
    »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
    »Ich rede von Elizabeth Gustafsdotter«, erwiderte sie und deutete mit dem behandschuhten Finger auf meine Nase. »Ohne Sie und Ihren brutalen Freund wäre sie womöglich noch am Leben. Ganz bestimmt wäre sie das sogar.«
    »Elizabeth wer? «
    »Gustafsdotter. Sie stammte aus Schweden.« Sie wandte sich erneut ab, seufzte tief und schaute auf die andere Seite des Flusses, zur Bankside, wo der Anchor Pub der Familie Barclay verschlafen in der Morgensonne döste. »In den Zeitungen nannte man sie später Elizabeth Stride. Sie war seit Jahren Witwe, und vermutlich war Stride der Name ihres verstorbenen Mannes. Uns hat sie sich mit ihrem Mädchennamen vorgestellt. Deshalb haben wir auch lange nicht begriffen, dass es sich um ein und dieselbe Frau handelte.«
    »Ich höre zum ersten Mal von dieser Frau«, beteuerte ich und legte meine Hand auf ihren Unterarm. »Das müssen Sie mir glauben, Eva!«
    »So, muss ich das?«, sagte sie und zog ihren Arm weg. »Und nennen Sie mich gefälligst nicht beim Vornamen! Das steht Ihnen nicht zu, Sir!«
    »Was ist denn überhaupt passiert? Ich begreife das alles nicht.« Die Situation erschien mir so unwirklich und absurd. Offensichtlich wurde mir ein Fehlverhalten vorgeworfen, das einer Frau das Leben gekostet hatte, doch mir waren weder die Frau noch mein Vergehen bekannt. Trotzdem schien Eva Booth nun von mir zu erwarten, dass ich irgendeine Schuld eingestand oder Reue für meine Verfehlung zeigte. Ich flehte sie regelrecht an: »Beschimpfen Sie mich, ohrfeigen Sie mich, das soll mir alles recht sein, aber bitte verraten Sie mir, was ich getan haben soll!«
    »Elizabeth war eine gefallene Frau«, sagte sie und hob abwehrend die Hand, als ich nachhaken wollte. »Und sie war eine bemitleidenswerte Trinkerin. Beides hängt natürlich zusammen, denn der Satan kennt viele Wege, die Menschen ins Verderben zu führen. Doch die Unglückliche wollte auf den Pfad der Tugend zurückkehren, dem Alkohol abschwören und sich nicht länger an die Männer verkaufen. Vor allem aber wollte sie sich von ihrem Freund trennen, der ein Trunkenbold und übler Schläger war und sie ein ums andere Mal wie einen Köter verdroschen hat. Deshalb hat sie sich an die Heilsarmee gewandt. Sie hat uns um Hilfe gebeten, und natürlich haben wir alles in unserer Macht Stehende getan, um sie in ihrem Entschluss zu bestärken.«
    »Dieser Freund, von dem Sie sprechen, kennen Sie seinen Namen?«, unterbrach ich sie und kramte hektisch nach meinen Zigaretten. Ein seltsamer und unbehaglicher Verdacht stieg in mir auf, und ich brauchte etwas, um meine Nerven zu beruhigen.
    »Sie nannte ihn Mika, aber ich glaube nicht, dass er ebenfalls Schwede war«, antwortete Eva Booth und machte plötzlich eine angewiderte Miene. »Würden Sie bitte in meiner Gegenwart das Rauchen unterlassen, Mr. Ingram? Das ist ein gottloses Laster, das ich in meinem Beisein nicht dulden kann. Andernfalls müsste ich unser Gespräch auf der Stelle beenden.«
    »Entschuldigung«, murmelte ich und warf die Zigarette, die ich gerade angezündet hatte, in die Themse. Der schroffe und kühle Tonfall, in dem Eva Booth mit mir redete, und der eisige Blick, mit dem sie mich bedachte, taten mir im Innersten weh. Zugleich aber hatte ich inzwischen eine Ahnung, in welche Richtung dieses Gespräch führte, und bei dem Gedanken daran wurde mir ganz schlecht. Dennoch sagte ich: »Bitte erzählen Sie weiter!«
    »Nachdem dieser Mika sie wieder einmal geschlagen hatte, kam Elizabeth zu uns ins Frauenasyl und bat die Schwestern um Schutz.«
    »Das Asyl in der Hanbury Street?«, fragte ich und schluckte. Ein verschwommenes Bild des Hauses tauchte vor meinem inneren Auge auf, und irgendetwas tief in mir beschwor mich dringend, auf der Stelle das Weite zu suchen. Ich schaute über meine Schulter in Richtung

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