Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Straße bedeutete dem zufälligen Passanten, dass sich hier ein Penny Gaff namens The Sensation befand. Vermutlich ging die Kunde von Mund zu Mund, oder dem Inhaber der Kneipe war es schlichtweg egal, ob irgendjemand der Monstrositäten-Show beiwohnte. Denkbar aber auch, dass es in diesem unwirtlichen Teil der Stadt einfach zu wenig zufällige Passanten gab, um einen größeren Aufwand zu rechtfertigen.
Der Pub befand sich nördlich des Bahnhofs Liverpool Street, in der Curtain Road, von der er auch seinen Namen erhalten hatte. Heather verriet Celia, dass sich vor hunderten von Jahren ein berühmtes Theater dieses Namens in der Nähe befunden habe. Von der Christ Church in Spitalfields war es nur ein kurzer Fußweg nach Shoreditch gewesen, doch die Gegend auf der Rückseite des Kopfbahnhofs war durch das Gewimmel der Gleise, die unzähligen Über- und Unterführungen und die vielen Nebengebäude, Stellwerke und Lokschuppen derart zerklüftet und unübersichtlich, dass sich Celia wie in einem Labyrinth vorgekommen war und vermutlich ohne Heathers Hilfe nicht mehr hinausgefunden hätte.
»Wahrscheinlich hat’s schon angefangen«, sagte Heather, als sie schließlich das Curtain betraten und drinnen von dichten Rauchschwaden und lautem Grölen empfangen wurden. »Vielleicht kriegen wir Nachlass.«
Celia wurde von Heather an der Hand durch den gut gefüllten Schankraum zu einer schmalen Tür neben dem Tresen geführt, auf der ein fleckiges Pappschild mit der Aufschrift »Sensation Gaff« angebracht war. Heather nickte Celia verschwörerisch zu und öffnete die Tür. Doch als sie sich unbemerkt in den Hinterraum stehlen wollten, wurden sie vom Wirt entdeckt und angeschnauzt: »Oi, ihr zwei Hübschen, macht ’nen Penny pro Nase!«
Celia fuhr erschrocken zusammen, doch Heather schielte durch die halb geöffnete Tür und antwortete: »Hat ja schon angefangen.«
»Dann ’nen Penny für zwei Nasen«, ließ sich der Wirt erweichen, tätschelte Celias Wange und streckte die offene Hand aus. »Will mal nicht so sein.«
Celia zahlte rasch und folgte Heather durch die Tür in einen abgedunkelten Raum, an dessen hinterem Ende eine niedrige Bühne von bunten Gaslichtern beleuchtet war. In einer Ecke stand ein Klavier, das aber im Augenblick nicht benutzt wurde. Auf der Bühne wurde eine Art Schauerstück aufgeführt, bei dem sich zwei maskierte Männer mit gezückten Messern auf eine leicht bekleidete Frau stürzten und wie im Blutrausch auf sie einstachen.
»Jack the Ripper«, vermutete Heather und setzte sich in die hinterste von sieben Stuhlreihen, die etwa zu zwei Dritteln gefüllt waren.
»Zwei Jacks?«, wunderte sich Celia und setzte sich neben sie.
Heather zuckte mit den Achseln und starrte fasziniert zur Bühne, wo der eine der Männer die Beine der am Boden liegenden Frau gewaltsam spreizte und so tat, als würde er sich geräuschvoll an ihr vergehen, während der andere unablässig mit dem Messer auf ihren Oberkörper einstach, bis das Blut in Strömen von der Klinge lief. Anscheinend hatte sie Beutel mit Tierblut in der Bluse versteckt. Celia wandte angewidert ihren Blick ab und betrachtete verschreckt das Publikum, das aus Männern, Frauen und sogar einigen Kindern bestand, die das blutrünstige Geschehen auf der Bühne lautstark kommentierten und beklatschten.
Glücklicherweise war die martialische Aufführung mit der fast vollständigen Entkleidung und dem dramatischen Tod der Frau bald beendet. Die Schauspieler verneigten sich und sammelten ihre schauerlichen Requisiten ein. Daraufhin betrat ein Mann im schäbigen Anzug und mit knittrigem Zylinder die Bühne und kündigte die nächste Sensation an.
»Werte Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir eine Frau, deren Rückgrat aus Kautschuk besteht und die mit ihren zierlichen Gliedmaßen die Gesetze der Natur widerlegt. Sie ist halb Frau, halb Schlange. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, aber mit Knochen aus vulkanisiertem Gummi. Aus dem fernen Ägypten, wo sie wie eine Pharaonin verehrt wird, heute bei uns zu Gast: Sheila, die Schlangenfrau von Shoreditch!«
»Das ist sie«, sagte Heather und stieß Celia mit dem Ellbogen an, während sie mit der anderen Hand einen Flachmann aus dem Mieder zog, den sie gekonnt mit einer Hand entkorkte und sich umgehend an den Mund setzte. »Gleich wirst du staunen! Maureen ist ’ne Wucht.« Sie steckte die Flasche wieder ein und klatschte begeistert, wobei sie Celia erneut auffordernd anstupste.
Der Mann mit dem Zylinder
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