Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
bereitet. Ich hatte keine Ahnung, ob ich es anschließend mit Long Liz in irgendeiner Seitengasse getrieben hatte und was aus dem Geld und dem Whisky geworden war. Das war auch gar nicht wichtig. Das Ganze war aus meiner Sicht ein guter Streich gewesen, ein lustiger Spaß, mehr nicht.
»Wann war das?«, wollte ich von Eva Booth wissen.
»Vor etwa drei Wochen, Ende September«, antwortete sie und fixierte mich mit ihrem eisigen Blick. »Genau einen Tag, bevor sie ermordet wurde.«
Ich senkte den Blick und wäre am liebsten vor Scham und Ekel über mich selbst im Boden versunken. Dann jedoch kam mir ein anderer Gedanke, der mich wie unter Schmerzen zusammenfahren ließ. »Sie glauben doch nicht, dass ich sie ermordet habe«, rief ich und griff nach ihrem Arm. Da sie erschrocken zurückwich, ließ ich sie los und bat um Verzeihung. »Ich bin kein Mörder!«
Aus den Augenwinkeln sah ich zwei dunkle Gestalten rasch näher kommen.
»Ich könnte einer Frau niemals etwas antun«, fügte ich flehentlich hinzu.
»Woher wollen Sie das wissen?«, fauchte sie mich an. »Sie haben sich offensichtlich nicht im Griff und keine Ahnung, wozu Sie in der Lage sind, Mr. Ingram! Wie können Sie sich also sicher sein?«
»Nein!«, rief ich entsetzt und hob abwehrend die Hände. »Ich bin nicht der Ripper. Das müssen Sie mir glauben, Miss Booth.«
»Es mag sein, dass Sie ihr nicht die Kehle durchgeschnitten haben, aber ohne Sie würde Elizabeth jetzt noch leben«, antwortete sie, und ihre Worte waren so kalt und ungnädig wie ihr Blick. »Sie haben die Frau auf dem Gewissen!«
Dem war kaum etwas entgegenzusetzen. Eva Booth hatte recht. Wenn ich nicht geholfen hätte, Elizabeth Stride aus dem Frauenasyl zu locken, hätte der Ripper in der folgenden Nacht nicht die Möglichkeit gehabt, sie in einer dunklen Gasse zu ermorden. Womöglich hätte es eine andere Prostituierte getroffen, doch das war mir kein Trost. Vermutlich wäre Long Liz später ohnehin zu ihrem prügelnden Freund zurückgekehrt, aus Trunksucht oder weil sie Geld brauchte. Doch es wäre nicht in dieser Nacht gewesen. Nicht mit diesen fatalen Folgen!
Ja, Eva Booth hatte recht. Ich hatte die Frau auf dem Gewissen.
Beinahe wünschte ich mir, ich wäre noch so unwissend wie vor nicht einmal einer Stunde, als ich mich ungerecht behandelt gefühlt und selbstgefällig nach einer Erklärung verlangt hatte. Doch die Zeit war leider nicht zurückzudrehen, die Worte waren nicht ungesprochen zu machen, ich konnte das Wissen nicht aus meinem Hirn radieren.
»Oh Gott!«, entfuhr es mir. Und in einer unbeholfenen und unbeherrschten Geste stieß ich meine Hand zum Himmel, als wollte ich den zürnenden Gott, an den ich gar nicht glaubte, für all das verantwortlich machen.
»Nehmen Sie Ihren Arm herunter, Sir!«
Ich schaute verwirrt zur Seite und sah eine dunkle Polizeiuniform und einen erhobenen Schlagstock.
»Sofort!«
Statt dem Befehl des Polizisten Folge zu leisten, fuhr ich auf dem Absatz herum und merkte gar nicht, dass ich meine Hand zur Faust ballte.
»Seien Sie doch vernünftig!«, sagte der Heilsarmist neben dem Polizisten und streckte mir seine Hände entgegen, als wollte er mich umarmen. »Gewalt ist niemals eine Lösung.«
Ich starrte ihn an und erkannte den Mann vom Empfangstresen im Hauptquartier. Gegen meinen Willen musste ich laut lachen. Es war alles so absurd. Wie in einem Fiebertraum!
»Ich hatte Sie gewarnt!«
Im selben Moment landete der Knüppel krachend auf meinem Schädel. Der Schmerz schoss explosionsartig durch meinen Körper. Meine Knie knickten ein. Der Boden kam näher. Die Geräusche verstummten. Wie dumm, dachte ich noch. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
DRITTER TEIL
CELIA BROOKS
»You could indeed exhibit anything in those days (…)
It was not the show, it was the tale that you told.«
(»Man konnte damals tatsächlich alles ausstellen (…)
Es ging nicht um die Vorführung, es ging um die Geschichte,
die man erzählte.«)
The Penny-Showman: Memoirs of Tom Norman, »Silver King«
FREITAG, 19. OKTOBER 1888
(AM TAG ZUVOR)
1
Die Curtain Tavern unterschied sich kaum von den umliegenden Kneipen in Shoreditch. Celia wäre niemals auf die Idee gekommen, dass sich im Hinterzimmer der etwas heruntergekommenen Schänke kuriose Gestalten und missgebildete Menschen dem gaffenden Publikum präsentierten. Nur ein winziges Plakat im Fenster wies auf die seltsamen Attraktionen hin, und ein unscheinbares Holzschild neben dem Eingang an der
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