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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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stand ein unglaublich großer, spindeldürrer Kerl, der sich noch riesiger machte, indem er hochhackige Stiefel anzog und einen überdimensionalen Bowler aufsetzte. Der Riese hatte ein ausgemergeltes Gesicht, dessen harte Konturen durch schwarze und weiße Schminke betont wurden. Er wirkte vielleicht auch deshalb so groß, weil direkt neben ihm ein Zwerg hockte, der aber nicht als Clown, sondern als missgebildetes Monstrum verkleidet war. Der winzige Mann trug eine schaurige Maske und schob sich gerade ein kleines Kissen hinten unter die Jacke, das ihn zu einem Buckligen machte.
    »Na, Kindchen, kannst den Mund wieder zumachen«, rief Maureen und reichte Celia die Hand. »Bist du eine Freundin von Heather?«
    Da Celia nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, lächelte sie nur stumm.
    »Klar ist sie das«, sagte Heather und legte ihren Arm um Celias Schultern. »Ich helf der Kleinen ein bisschen auf die Sprünge und zeig ihr, wo’s langgeht.«
    »Als wenn du davon auch nur die leiseste Ahnung hättest«, spottete Maureen und zog sich das Trikot aus. Dass sie nun barbusig und im Unterrock vor dem Zeremonienmeister und allen anderen Anwesenden stand, schien ihr nichts auszumachen. »Seid ihr zufällig hier?«
    »Nein. Ich hab deinen Schlangennamen auf ’nem Plakat gelesen und Celia extra hergebracht«, sagte Heather und stieß Celia auffordernd an. »Sie sucht nämlich jemanden und will dich was fragen. Vielleicht kannst du ihr helfen.«
    »Aber nicht hier drinnen«, mischte sich der Mann mit dem Zylinder ein und hielt Maureen ein Kostüm hin, das vage einer Schlangenhaut nachempfunden war. »Und nicht jetzt! In ein paar Minuten bist du wieder dran, Süße. Plaudern kannst du, wenn du Feierabend hast.«
    Maureen hob bedauernd die Schultern und sagte: »Schaut euch doch den Rest der Show an. Danach können wir reden. Ich wohne gleich um die Ecke. In der Luke Street.«
    »Einverstanden«, meinte Heather und ging mit Celia zurück in den Bühnenraum, wo das Publikum hörbar ungeduldig auf die Fortsetzung wartete.
    »Was für eine schöne Frau«, murmelte Celia, als sie sich setzte.
    »Findest du?«, antwortete Heather und zuckte verächtlich mit den Schultern. »Früher vielleicht. Ganz schön mager geworden, die Gute! Und blass im Gesicht.«
    »Das war die Schminke«, vermutete Celia.
    »Wenn schon«, meinte Heather. Als der Zuschauerraum abgedunkelt wurde, nahm sie einen weiteren Schluck aus ihrem Flachmann.
    Sheilas Schlangennummer, die vom Zeremonienmeister erneut mit hochtrabenden Worten angekündigt wurde, bildete den Auftakt zur zweiten Hälfte des Programms. Doch diesmal turnte und verbog sie sich nicht auf einem Tisch, sondern kroch schlangenartig und zischelnd aus einem großen Bastkorb und schlängelte sich über den Boden, ohne dabei die Hände oder Füße zu benutzen. Oder sie tat das so geschickt, dass man es nicht bemerkte. Maureen ringelte sich, bog wie eine Schlange ihren Kopf und Oberkörper senkrecht in die Höhe, während sie mit ihrem Becken den Boden berührte, sodass Celia fast Angst um ihr Rückgrat bekam. Mit großen Augen und offen stehendem Mund verfolgte sie das Geschehen auf der Bühne, und in unregelmäßigen Abständen entfuhren ihr kleine Seufzer des Staunens. Auch die Männer im Publikum seufzten gelegentlich, doch das hatte vermutlich andere Gründe. Schließlich wurde die Schlangenfrau vom Zeremonienmeister mittels einer Rassel wieder in den Bastkorb gelockt, an dessen Außenwand sie emporkroch, als hätte sie wie ein Krake Saugnäpfe an ihrem Körper. Nachdem sie im Korb eingesperrt war, wurde sie unter dem Beifall der Zuschauer von dem erstaunlich kräftigen Zwergenclown von der Bühne geschoben.
    Celia war fasziniert und hätte am liebsten nach einer Zugabe gerufen, doch schon betrat der Zeremonienmeister wieder die Bühne, schwenkte seinen Zylinder und kündigte eine weitere schockierende und blutrünstige Darstellung der Whitechapel-Morde an, was von den Zuschauern frenetisch bejubelt wurde. Sie skandierten: »Jack, Jack, Jack!«
    Als die drei Schauspieler hinter dem Vorhang hervortraten und bereits nach kurzer Zeit ersichtlich war, worauf die Darbietung abermals hinauslaufen würde, entschuldigte sich Celia bei Heather und sagte, sie wolle lieber auf der Straße warten, als dem Gemetzel zuzuschauen.
    »Aber wir haben bezahlt«, empörte sich Heather.
    » Ich habe bezahlt«, korrigierte Celia und stand auf. »Du kannst gerne bleiben, wenn du willst. Wir sehen uns nach der

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