Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
hatte sich inzwischen ans Klavier gesetzt, wo er seltsame Tonfolgen spielte, die womöglich orientalisch klingen sollten. Auf die Bühne trat eine junge, sehr schmächtige Frau, die außer einem knapp bemessenen und fast durchsichtigen Trikot nur einen weißen Schleier vor dem Gesicht trug. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie unter einer Art Turban verstaut. Sie setzte sich unter merkwürdigen Verrenkungen der Arme im Schneidersitz auf einen Tisch, den ein zwergenhafter Helfer im Clownskostüm zuvor hereingetragen hatte. Dann griff sie mit der linken Hand nach ihrem rechten Fuß und legte ihn sich in den Nacken, anschließend fasste sie mit der rechten Hand ihren linken Fuß und tat es mit ihm genauso, zu guter Letzt stemmte sie sich auf ihren Handflächen in die Höhe, drehte sich auf dem Tisch im Kreis und klatschte mit den nackten Fußsohlen hinter ihrem Kopf.
Celia starrte wie gebannt zur Bühne und glaubte kaum, was sie dort sah. Heather hatte nicht übertrieben, Maureen war tatsächlich eine Wucht. Was sie mit ihren Armen, Beinen und vor allem ihrem Rücken veranstaltete, spottete jeder Beschreibung. Sie konnte ihr Rückgrat derart nach hinten verbiegen, dass sie mit den Fingerspitzen ihre Fersen zu berühren vermochte. Anschließend stellte sie sich auf die Hände und ließ die Füße wie ein Katapult nach oben schnellen, um gleich darauf im Spagat auf dem Tisch zu landen. Celias Knochen taten allein beim Zuschauen weh, doch die Schlangenfrau schien überhaupt keine Knochen zu besitzen. Sie lächelte, während sie sich verbog und spreizte und verknotete, dass den Zuschauern das Hören und Sehen verging.
Dass einige der Kunststücke und Posen höchst obszön und vor allem für das geifernde männliche Publikum gedacht waren, bemerkte Celia durchaus. Sie schämte sich fast für die lüsternen Kerle, die der Frau so ungeniert zwischen die Beine und auf die halb entblößten Brüste starrten, doch für Maureen alias Sheila empfand sie nichts als Bewunderung, und als die Darbietung nach etwa einer Viertelstunde beendet war, klatschte sie so heftig, bis ihr die Hände weh taten und Heather sie darauf aufmerksam machte, dass nun eine zehnminütige Pause folgen würde.
»Komm mit!«, sagte Heather und deutete zur Bühne, auf der der kleine Clown den Tisch beiseiteräumte und die Utensilien für die nächste Nummer heranschaffte. »Wir wollen Maureen Guten Tag sagen.«
»Wir können doch nicht einfach …«, meinte Celia schüchtern.
»Klar können wir«, erwiderte Heather und zog sie schon hinter sich her.
Neben der Bühne führte ein schmaler Durchlass zu einem weiteren Hinterzimmer, doch als Heather den Vorhang beiseiteschob, mit dem die provisorische Umkleidekabine vom Bühnenraum getrennt war, stellte sich ihr der Mann mit dem Zylinder in den Weg und sagte: »Postkarten gibt’s erst nach der Vorstellung. Musst dich noch etwas gedulden.«
»Wir wollen zu Maureen«, sagte Heather und zwängte sich an dem Mann vorbei.
»Hier gibt’s keine Maureen«, antwortete der Zeremonienmeister und wollte Heather am Kragen packen.
»Weiß Maureen, dass es sie nicht gibt?«, lachte Heather, schlug dem Mann auf die Finger und deutete zu einem Stuhl, auf dem die Schlangenfrau von Shoreditch saß und ihr Trikot auszog. »Hallo, Liebes! Noch alle Gräten heil?«
»Heather, du alte Vogelscheuche!«, rief Maureen und warf sich ihrer Freundin in die Arme. »Wo kommst du denn her? Hab dich ja Ewigkeiten nicht gesehen. Wo hast du gesteckt?«
»Hier und da«, antwortete Heather ausweichend und hob vielsagend die Augenbrauen. »Man schlägt sich so durch.«
Maureen nickte wissend und klopfte Heather aufmunternd auf den Oberarm.
Der Mann mit dem Zylinder deutete auf Celia und fragte: »Gehört die Kleine dazu?« Auf Heathers Nicken hin bugsierte er Celia ins Hinterzimmer und schloss den Vorhang hinter ihr.
Celia schaute sich in dem winzigen Raum um und starrte fasziniert auf die sonderlichen Gestalten, die sich hier auf ihren Auftritt vorbereiteten oder sich nach getaner Arbeit ihrer Kostüme und Schminke entledigten. Die drei Schauspieler, die vorhin den Ripper-Mord nachgestellt hatten, trugen inzwischen andere Kleidung und reinigten die blutigen Mordwerkzeuge, die offenkundig für die nächste Vorführung erneut gebraucht wurden. In einer Ecke des fensterlosen Kabuffs saß eine ältere Frau vor einem Spiegel und bepinselte ihren üppigen Damenvollbart mit schwarzer Farbe, damit er noch besser zur Geltung kam. Direkt neben ihr
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