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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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fragte sie ihren Begleiter: »Hast du schlechte Laune?«
    »Warum sollte ich?«, war seine knappe Antwort.
    »Hab ich dir irgendetwas getan?«, hakte Celia nach und versuchte, seinen Blick zu erhaschen. »Oder etwas Dummes gesagt?«
    »Wenn du das selbst nicht weißt«, knurrte er, ohne sie dabei anzuschauen.
    Celia begriff nicht, was in ihn gefahren war oder womit sie ihn womöglich verärgert hatte, doch in diesem Augenblick wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine Hausnummer auf der linken Seite abgelenkt: 135 Fenchurch Street!
    Dies war die Adresse des Fotografen, der das Kabinettporträt ihrer Mutter aufgenommen hatte. Tatsächlich hing an der Fassade des dreistöckigen Backsteinhauses ein emailliertes Metallschild. Ein altertümlicher Fotoapparat mit dreibeinigem Stativ war darauf zu erkennen.
    »Könntest du kurz anhalten?«, bat sie Adam.
    »Wir sind spät dran«, maulte er und ließ das Pferd in unvermindertem Tempo weitergehen. »Wir wollen die Hungrigen und Bedürftigen nicht unnötig warten lassen.«
    »Bitte, nur einen kurzen Moment«, sagte Celia, »ich möchte gern etwas nachschauen. Es dauert auch nicht lange.«
    Doch Adam tat so, als hätte er nichts gehört, und schaute stur geradeaus, wo die Fenchurch Street am gleichnamigen Bahnhof vorbeiführte und in die Aldgate High Street überging.
    Celia blickte über ihre Schulter zurück. Das Haus mit der Nr. 135 war ein Eckhaus, und der Eingang zu dem Fotostudio befand sich in der Querstraße. Über einem winzigen Schaufenster sah Celia einen Schriftzug: »A. & G. Taylor«. Und darunter stand in schnörkeligen Buchstaben: »Fotografen Ihrer Majestät der Königin«. Ein C. T. Newcombe wurde nicht genannt. Jedenfalls nicht in so großen Buchstaben, dass Celia es aus der Entfernung hätte entziffern können. Dann war das Haus aus ihrem Blickfeld verschwunden.
    Adams Laune besserte sich in der Folgezeit nicht, auch seine Redseligkeit kehrte keineswegs zurück. Er blieb stumm wie ein Fisch und mürrisch wie ein Maulesel. Celia versuchte einige Male, irgendein Gespräch anzufangen – über das Wohnheim in Limehouse, über die Arbeit in der Essensausgabe, über den gestrigen Fackelzug und die Rede von Eva Booth, schließlich sogar über das kalte und regnerische Wetter in London –, doch außer knappen und nichtigen Kommentaren war Adam nichts zu entlocken. Celia beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen und ebenfalls den Mund zu halten. Was auch immer ihn verärgert hatte, sie würde seine Verdrossenheit mit Missachtung strafen. Was blieb ihr anderes übrig?
    Sie hatten Aldgate längst hinter sich gelassen und näherten sich nun den Docks und Hafenanlagen von Wapping und Limehouse. Es wimmelte in dieser Gegend von Fabriken mit riesigen Schloten, großen Lagerhallen und fensterlosen Speichern sowie unzähligen Hafenbecken, Kaimauern, Schleusen und kleineren Kanälen, die nach Süden hin mit der Themse verbunden waren. Eine Eisenbahnlinie fuhr parallel zur Durchgangsstraße auf einem gemauerten Damm. Außerdem fielen Celia die vielen stählernen Gasbehälter auf, die an überdimensionierte Blasebälge erinnerten und die Straßenlaternen Londons mit Gas versorgten.
    Die Docks unterschieden sich merklich von den Wohngebieten im nahe gelegenen Whitechapel oder Spitalfields. Sie wirkten auf Celia wie eine Stadt in der Stadt. Die Häuser erschienen ihr größer, unförmiger und dunkler, die Straßen viel breiter, aber auch trostlos und armselig. Statt der Iren und Juden, die im nördlichen East End das Stadtbild prägten, waren es in Limehouse die Chinesen, die Opium rauchend oder Reiswein trinkend vor ihren Schänken saßen oder Trockenfisch von Handkarren verkauften. Überall sah man chinesische Tierornamente und Schriftzeichen, die auf Suppenküchen und Teehäuser hinwiesen, wie unschwer an dem süßlich würzigen Geruch zu erkennen war.
    »Ganz schön viele Chinesen«, sprach Celia aus, was offensichtlich war.
    »Chinatown«, knurrte Adam einsilbig.
    »Hm«, machte Celia. Wieder war ein Gesprächsversuch ins Leere gelaufen.
    Inzwischen stand die Sonne, die ohnehin die meiste Zeit hinter dichten Regenwolken verborgen war, nur noch eine Handbreit über der westlichen Silhouette der Stadt, über der Themse war bereits die blasse Scheibe des Vollmonds am Himmel zu sehen. Celias Magen knurrte, vor allem wenn sie an die Speisen dachte, die sie auf der Ladefläche transportierten. Deshalb fragte sie: »Ist es noch weit?«
    »Willst wohl wieder zurück zu ihm«,

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