Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
Eindruck mit seiner Entdeckung gemacht zu haben. »Ich hab mich immer gefragt, wer wohl das hübsche Mädchen auf dem Foto ist. Dachte immer, es wäre irgendeine entfernte Verwandte. Vater habe ich mal danach gefragt, aber der hat nur wie üblich unverständlich rumgegrummelt. Und Mutter ist schon lange tot, die konnte ich also nicht fragen. Jetzt endlich weiß ich es. Es ist Mary Tremain, die hübsche Mutter einer noch hübscheren Tochter.«
    Celia achtete nicht auf das Süßholzraspeln des Wirts, sondern starrte unverwandt auf die Fotografie. Was sie geradezu schockierte, war der frappierende Unterschied zwischen diesem Porträt und dem Familienfoto, das vor einigen Jahren in Brightlingsea aufgenommen worden war. Nicht einmal zwanzig Jahre lagen zwischen den beiden Bildern, doch es kam Celia so vor, als wären zwei völlig verschiedene Frauen darauf abgebildet. Die hübsche und keck dreinschauende Mary Tremain in ihrem weißen Sonntagskleid hatte nichts gemein mit der verhärmten Mary Brooks, die ihre drei halbwüchsigen Kinder wie Orgelpfeifen vor sich aufgestellt hatte. Nie wäre Celia auf die Idee gekommen, dass sie ihrer Mutter äußerlich ähnelte und quasi ein exaktes Abbild darstellte, und im gleichen Moment begriff sie, was die Ehe mit Ned Brooks, das Großziehen der Kinder und das harte Leben an der Küste von Essex aus Mary gemacht hatten. Ihre Mutter war gerade einmal zweiundvierzig Jahre alt geworden, doch sie war im Körper einer Greisin gestorben.
    »Willst du’s haben?«, fragte Webster.
    »Das Foto?«, staunte Celia. »Du schenkst es mir?«
    »Den Rahmen behalte ich«, antwortete er und griente. »Da kommt ein anderes Bild rein, sonst sieht man den hellen Fleck an der Wand. Aber das Foto deiner Mutter darfst du behalten. Mit besten Grüßen von Rod Webster.«
    »Danke«, murmelte Celia, ohne ihn dabei anzuschauen, und öffnete den Rahmen. Als sie die Kabinettkarte herauszog, sah sie auf der Rückseite des Kartons einen verschnörkelten Firmenstempel mit der Inschrift: »Fotografiert von C. T. Newcombe, 135 Fenchurch St.«.
    »Welche Stellung hatte deine Mutter im Gasthof?«, fragte Webster, als er den Holzrahmen in Empfang nahm und dabei mit dem Finger ganz unauffällig über Celias Handrücken strich. »Als was hat sie gearbeitet?«
    »Sie war Dienstmagd oder Schankmädchen, soviel ich weiß«, antwortete Celia und zuckte unter der Berührung zusammen. »Wieso willst du das wissen?«
    Webster schüttelte ungläubig den Kopf und entgegnete: »Warum sollte mein Vater das Foto einer Dienstmagd im Sonntagsstaat ins Treppenhaus hängen?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Celia. »Vielleicht aus Dankbarkeit?«
    »Wir müssen los«, ging Adam mürrisch dazwischen.
    »Dankbarkeit?« Webster lachte laut und trat beiseite, als Adam das Pferd mit einem Zügelschlag antrieb. »Mein Vater war nicht gerade für seine Dankbarkeit oder gar Herzensgüte bekannt«, rief er ihnen nach. »Wäre mir jedenfalls neu.«
    »Bis morgen, Rod!«, rief Adam knurrig und ließ die Zügel knallen.
    »Bis bald, hübsche Celia«, antwortete Webster. Diesmal flüsterte er nicht.
    »Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte Celia in Gedanken versunken und beinahe flehentlich, als sie in die Hauptstraße von Southwark einbogen. Erneut starrte sie auf das Porträt ihrer Mutter, die den Fotografen und damit den Betrachter herausfordernd, ja beinahe neckisch anschaute. Schnell verstaute sie das Foto in der Innentasche ihres Mantels.

6
    Während der Wagen den Weg zur Themse zurückfuhr, die Eisenbahnbrücke unterquerte und sich vor der London Bridge in den Stau einreihte, starrte Adam missmutig und unverwandt nach vorne und brachte keinen Ton über seine Lippen. Das war vor allem bemerkenswert deshalb, weil er auf dem Hinweg nach Southwark unentwegt geplaudert hatte und sichtlich darüber erfreut gewesen war, Celia neben sich zu wissen. Nun aber gingen seine Mundwinkel nach unten, sein Kiefer mahlte unentwegt, und er starrte wie behext auf die schweißnasse Kruppe des Pferdes, die er immer wieder mit den Zügeln traktierte, obwohl das arme Tier wahrlich nichts dafür konnte, dass sie auf der Brücke feststeckten.
    Celia, die anfangs ihren eigenen Gedanken nachgehangen und deshalb kaum etwas um sie herum wahrgenommen hatte, wunderte sich nach einer Weile über Adams seltsame Stimmung und sein griesgrämiges Gesicht. Als der Wagen die Brücke passiert hatte und von der Bishopsgate Street rechter Hand in die Fenchurch Street einbog,

Weitere Kostenlose Bücher