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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
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lockert die Nackenmuskulatur. Sie ist Krebs.
    Jedes Jahr lädt Frau Schwermuth das Frühstücksfernsehen zum Annenfest ein. Ein Außendreh über die Feierlichkeiten, wäre doch schön. Ein Fax geht an den Sender, eines an Britta Hansen. Frau Schwermuth holt dazu immer einen Gruß von Mutter Hansen ein. Britta würde auch wirklich gern kommen, aber ihr sind bei solchen Entscheidungen leider die Hände gebunden.
    Für den Schluss hebt sich Britta Hansen ein Sprichwort auf, eine Volksweisheit oder ein Zitat von jemandem Berühmten: Schlägt man einen falschen Weg ein, verirrt man sich umso mehr, je schneller man geht.
    Frau Schwermuth hat mal erzählt, schon als Kind habe Britta sich für den Himmel interessiert. Der ist bei uns besonders schön. Eigentlich wollte sie Physik studieren. Aber gut. Jetzt sei es so was wie Metaphysik geworden, »Metaphysik zwischen uns und den Sternen«.
    Frau Schwermuths Augen glühen im Nichtblinzeln vor dem Fernseher. Ab und an schickt sie die Pupillen extrem nach links, extrem nach rechts. Das ganze Leben , sagt Britta Hansen und lächelt Frau Schwermuth an, ist ein ewiges Wiederanfangen .
    »Ist doch wahr«, flüstert Frau Schwermuth. Sie schaltet den Fernseher aus und steigt in den Keller hinab. Sie hat noch ein paar Fragen an den Kesselflicker.
    Fürstenfelde, Brandenburg. Einwohnerzahl: sinkend. Bei uns am Ortseingang steht ein Schild. Herzlich willkommen in der Uckermark: Jetzt wird’s schön. Anzahl der auf der aktuellen Wanderkarte als »sehenswerter Einzelbaum« gekennzeichneten Bäume: zwei.
    Was auch immer du über uns gehört hast, das nicht von uns selbst kommt, stimmt so nicht. Hier geht es anders zu als in den Touristenführern, in den Büchern, den demografischen Studien. Wenn bei uns irgendwo ein Fenster eingeschlagen wird und offen steht, dann haben wir mehr Angst vor dem, was entkommen sein könnte, als vor dem, der vielleicht eingestiegen ist.
    Und der blöden Wanderkarte ist schon mal gar nicht zu trauen: Wir haben nämlich einen dritten sehenswerten Einzelbaum – die Eiche auf dem Feld am Geherschen Gehöft. Die wird gern weggelassen, weil sie krumm ist wie Rückenschmerzen und weil das Feld nicht mal für die ambitioniertesten Wanderer einen Sinn ergibt, und obwohl sie richtig alt ist und sonst jede andere 500-jährige Eiche einen eigenen Blog hat.
    Es ist aber so, dass an der Eiche über die Jahrhunderte hinweg massig Leute hingerichtet wurden und man manchmal vor Wut am liebsten das ganze Feld mit Zement zuschütten möchte, aber nicht, weil man auf das Feld und die Eiche wütend ist, sondern weil das außer Frau Schwermuth niemanden interessiert. Nicht mal eine Tafel weist irgendwo darauf hin.
    Wir schweifen ab.
    So eine Nacht ist das.

1619 UM PFINGSTEN WURDE EIN KNECHT MIT NAMEN DREWES VON EINEM ERSTOCHEN, der Täther lief davon, war 8 Jar weg, kam aber endlich von selbst wider, der Meinung, es solte sicher vergessen sein. Er ward in gefängliche Haft gebracht und ihm dergestalt sein Recht gethan, daß er mit dem Strick vom Leben zum Todt verrichtet wurde.

UND HERR SCHRAMM , ehemaliger Oberstleutnant, Förster, Rentner, nimmt die Pistole von der Schläfe und entriegelt die Tür für das Mädchen. Anna strahlt ihn mit der Stirnlampe an.
    »Was machen Sie da mit der Pistole?«
    Blendet ihn wie im Verhör.
    »Naja.«
    »Tun Sie die weg.«
    Herr Schramm steckt die Pistole in seine Trainingshose.
    Anna setzt sich auf den Beifahrersitz.
    »Schramm, erfreut.«
    »Ich weiß, wer Sie sind.« Anna schaltet das Innenlicht an und die Stirnlampe aus.
    »Mhm«, macht Herr Schramm. Er reibt sich die Augen. Das macht ihn traurig, dass er sich die Augen reibt. Also fragt er:
    »Was machst du hier draußen?«
    »Laufen.«
    »Das ist gefährlich.«
    »Ich steige auch zu bewaffneten Wahnsinnigen ins Auto auf einem Acker mitten in der Nacht.«
    Herr Schramm wendet sich ab. Da ist die Nacht und da der Baum und da der Acker. Anna blickt ihn unverwandt an. Da sind Tränensäcke, Kapillaren auf der Nasenknolle, da sind Härchen im Ohr. Herr Schramm sieht aus wie jemand, der mit seinem Körper nicht mehr viel vorhat.
    »Ich bin nicht wahnsinnig«, sagt Herr Schramm.
    Unrasiert, das Haar fettig. Herr Schramm sieht aus wie jemand, der mit Zahnbürste im Mund auf dem Klo einschläft. Der schreiend aufwacht und nicht weiß, wann er sich befindet. Wenn das so wäre, wüsste Schramm immerhin noch ehrlich zu sagen, warum der Albtraum. Doch was nutzt das schon?
    Das Unterhemd und die

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