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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
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ihrer Reise je gegeben hat. Zwei ältliche Frauen, die Hände hielten, wenn die Angst zu groß wurde. Teilten Suppe und Brot. Manche sagen, sie haben unterwegs nichts als den Tod gefunden. Wir sagen, tot ist nur, wer tot gefunden.
    In den Straßen die Nacht, die uns sichtbar macht, leuchten die Laternen. In der Gemeinderatssitzung hat Frau Reiff unlängst vorgeschlagen, Bewegungssensoren zu installieren, sodass nur dem geleuchtet werde, der Licht auch braucht. Damit würden Strom und Geld gespart. Aber wie das so ist. Die anderen Zugezogenen fanden das gut, bei den Alteingesessenen fiel das Urteil unklar aus. Nach der Sitzung lobten alle Frau Reiff, wie gut die Idee doch wäre. Meinungsäußerung vor Obrigkeit ist nicht unser größtes Talent, wir geben das ja zu. Frau Reiff hat dann, vielleicht scherzend, wahrscheinlich aber allen Ernstes, vorgeschlagen, alle vor 1980 Geborenen in Gruppentherapie zu stecken, damit sie lernen, mutiger zu sein. Was sie aber nicht bedacht hat, ist, dass unsereiner sich vor Psychologen noch mehr fürchtet als vor der Courage.
    Die nassen Straßen glänzen in der Nacht wie unterFrischhaltefolie.
    Nach der Ernte, nach dem Drusch, nach der Winteraussaat treiben wir Trecker und Laster durch die Straßen in der Nacht viel schneller als erlaubt, aber so ist das, wenn du was Mächtiges, Lautes, Helles fährst, auf dem du auch noch erhöht sitzt, so ist das, wenn du nach Hause willst, nachdem du den ganzen Tag über die Äcker gegondelt bist und Staub geatmet hast, dann willst du in den Straßen in der Nacht zeigen, dass du das bist: Du bist der Mann, du bist die Landwirtschaft, der Ernährer, unter deinem Tisch stehen all unsere Füße. Dann stellst du die Maschine ab, nach Hause fährst du mit dem Rad, schniefend durch die staubverklebten Nasenhöhlen. Wie gut die Dusche tun wird.
    In der Nacht in Gummistiefeln, unzufrieden mit dem Fortschritt an ihrem Gemälde: Frau Kranz.
    Von einer Mücke gestochen im Regen: Herr Schramm. »Sag mal«, sagt Herr Schramm. Im Schnitt weisen Mücken eine höhere Stichquote bei Menschen mit höherer Konzentration von Bakterien auf ihren Füßen auf als bei Menschen mit weniger Bakterien auf ihren Füßen. Seit er das weiß, benutzt Herr Schramm eine antibakterielle Seife, und trotzdem wird er gestochen, nur jetzt halt nicht mehr so oft an den Füßen.
    In den Straßen: die Jägerinnen. Frau Schwermuth. Die Fähe.
    In der Nacht: Musik und Ewigkeit, wie sollen wir jemals Ruhe finden?

IN DER THÄLMANN-STRASSE 16 IN DER NACHT : MUSIK . Dietmar Dietz, genannt Ditzsche, wohnt dort. Unverheiratet, zu Kindern und Tieren immer ehrlich, Briefträger vor der Wende, heute fünfzehn Rassehühner.
    Ditzsche kam während der Erweiterten Kinderlandverschickung nach Fürstenfelde und wurde nicht mehr abgeholt. Seine Familie hier, die Gracedieus, Nachfahren von Hugenotten, das waren keine schlechten Leute.Familie ist Familie, besser irgendeine als keine. Die Gracedieus blieben für sich, alle zwei Jahre eine Reise nach Kuba, nahmen auch mal Ditzsche mit. Darüber, wie die sich das leisten konnten, wurde geredet. Ende der Siebziger bei einem Flugzeugabsturz zu Tode gekommen. Irgendwie passt so ein Ende zu Fürstenfelde nicht, aber gut.
    Vor dem Tor zum Innenhof von Haus Nummer 16 steht ein Tisch. Auf dem Tisch eine rosa Plastikbox. Die Box ist immer draußen, komme Regen, komme Eis, komme Nacht. In der Box: Eier. 10 Stück: 2,00 €. Das ist ein angemessener Preis. Ditzsche hat gute Hühner, gesund und wohlerzogen, mit Spezialfutter und der Hingabe des Außenseiters versorgte Hühner, Hühner, die wie Hühner riechen. Naht ein Unwetter oder ein Fremder, warnen sie Ditzsche. Beim Briefträger halten sie still.
    Alle paar Tage nimmt Ditzsche die nicht verkauften Eier aus der Box und legt behutsam frische hinein. Das ist einer der seltenen Momente, wo du ihn draußen sehen kannst. Dietmar Dietz’ Gesicht ist rosa wie seine Box. Faltig, ein faltiges Gesicht. Arme und Beine sehnig.Ditzsches Hemden sind Ditzsche im Alter zu groß geworden. Es war nicht immer so. Es war so, dass die Hemden ihm passten und gebügelt waren. Es war so, dass seine taubenblaue Uniform ihm ideal stand, was verwunderlich ist, wenn man bedenkt, wie selten DDR -Uniformen irgendjemandem ideal standen.
    ’95, damit die Städter unsere Seen wieder für sich entdecken, wollte das Dorf neue Postkarten drucken für die Badesaison. Das Kreativkomitee kam im Haus der Heimat zusammen, um zu besprechen, was auf die

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