Vor dem Fest
»Wir machen es, wie ich es sage: Sie geben mir die Pistole, und Sie kommen mit. Wir holen den Ausweis und die Kippen, und dann sehen wir weiter.«
Herr Schramm klopft auf das Lenkrad. Im Schnitt geraten Männer im westlichen Europa alle 13,4 Jahre in unmittelbare Lebensgefahr, Frauen alle 15,1 Jahre. Anna müsste um die achtzehn sein. Er reicht ihr die Pistole. Der alte Mann und die junge Frau steigen aus. »Moment«, sagt der alte Mann und holt aus dem Kofferraum einen Regenschirm. Der alte Mann und die junge Frau laufen über die Äcker, Wiesen und Straßen in der Nacht.
IN DEN STRASSEN IN DER NACHT hat das Dorf keine Arbeit. Die Nacht schafft keine Arbeitsplätze. Es gibt keine Spätschicht, kein Hotel, keinen Nachtwächter, keinen Radio- DJ , keine Nachtbaustelle. Im Dorf arbeitet niemand für Erotik-Hotlines, glaubt das Dorf.
In den Straßen, der Himmelsbaum der Sterne, behangen mit feuchter nachtblauer Frucht.
In der Nacht verdient nur Ulli noch manchmal mit seiner Garage. Gab es ein spätes Fußballspiel zu diskutieren, den Bau eines Bungalows am See oder eines Asylantenwohnheims egal wo, dann auch mal nach Mitternacht. Spätestens um eins ist Sense. Nach eins verdient der Inhaber desZigarettenautomaten noch ein paar Euro, aber der zählt nicht, der war noch nie in Fürstenfelde, der lebt in Ingolstadt oder auf Ibiza, der wird sich wundern, so eine Nacht ist das. Danach verdient die Bäckerei, aber das ist nicht mehr Nacht, das nennt man traditionell schon Morgengrauen, außer im Morgengrauen auf den Montag, da ist die Bäckerei zu.
Nacht, Wolken, violett, die Farbe von Annas Laufleggings in den Straßen.
In den Straßen lieb dreckig Fürstenfelde und zwei Fürstenfelder Tagelöhnerinnen, ältlich und fromm, haben zig Jahre in einer Hütte dicht an der Mauer gewohnt, feuchte Nacht, Hungermief, Talg, rasende Herzen, die Männer an Kriege verloren. Wassersuppe und Brot, Wassersuppe und Brot, oder hinter der Grenze bei den Mecklenburgern betteln, sich mit Zigeunern schlagen, in der Armenbüchse überwintern, wie um die preußische Herrschaft zu beschämen: ausgerechnet in Mecklenburg finden sie Hilfe in der Not. Sie sparen über die Jahre für eine Reise ohne klares Ziel. Die Legende von dem Riesen, der hier aus einem See zwei machte, kennen sie, und dahin machen sie sich auf, in den Süden, in die gebirgige Heimat des Riesen. Sie nehmen mit, was sie besitzen, viel ist es nicht, sie heißen Isolde Kerner und Flora Kohl, sie sind unterwegs, sie haben keine Angst und sehr viel Angst, sie teilen Brot und Wasser, Hand in Hand, ach was, fragen nach dem Süden, wo ist es immer, dieses Süden, beten, sonst muss nicht viel gesprochen werden, Isolde hat den Hexenschuss, worauf Flora sie mit Kräutersalben einreibt.
Das Kriegsjahrhundert ist vorbei, sie reisen über verbranntes Land, sie sehen Leid größer als das eigene, die Glocken läuten, die Hexen brennen, die Abgötterei findet sich seltener vorm Gericht. Sie sprechen mit dem, der sprechen will, hüten sich vor dem, der schimpft. Und der Mensch schimpft viel, die Zeiten sind nicht leicht. Als Flora vor der Abreise in Fürstenfelde einen lang ausstehenden Tageslohn von der Kladdenschen kassieren wollte, verweigerte diese ihn ihr wegen eines zerbrochenen Krugs mit den Worten: Du kriegst nichts von mir, du linkische Kohlhuhre! Flora hatte die Absage erwartet, nicht aber den Schimpf. Schamrot sah sie zu Boden. Da trat Isolde vor die Freundin und lud die Kladdensche ein, ihr das Arsloch zu schaben .
Und sonst? Wir sagten Schelm und Behrenhäuter zum Mann, oder Lümmel, Ochse, Bawrbengel. Calvinistischer Klöppeldieb! kam auch gut. Und die Variationen: Bawrschelm, potteüfelscher Schelm, Mörderschelm, Registermacherschelm. Sacramentische Huhre (die Pfarrfrau) , landläuffer Huhre (fahrendeProstituierte), Polackenhuhre (muss nicht Polin sein) und Außländerin (muss Ausländerin sein) . In den Straßen in der Nacht kannst du also hören: Wo ist nun dieser Schneider, dieser Außländische, der Teüfel sol ihm den Hals zerbrechen ! Oder: Ich frag den Teüfel nach dem Priester, ich scheiße auf den Pfaffen ! Wirklich gemein wird es, wenn man jemandem wünschte, ihm oder ihr möge der Frantzose im Leibe fahren .Die Krönung ist dann: Frantzösischer Huhrenjägerschelm!
In den Straßen in der Nacht in Fürstenfelde gibt es keine Bettlerinnen mehr. Isolde und Flora trotzten Schimpf und Wetter, den Hexen und den Hexenschüssen, der Unwahrscheinlichkeit, dass es sie auf
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