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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
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Trainingshose, das Unrasierte und das Kaputte täuschen. Herr Schramm hat in den letzten Tagen bloß nichts Großes vorgehabt, das ist alles. Er behandelt seinen Körper mit einer milden Cremeseife, ohne zu übertreiben. Er putzt regelmäßig, außer oben auf den Schränken, weil: warum? Sogar seinen kleinen Garten pflegt er wie andere ein Familienmitglied – mit Pflichtgefühl und Widerwillen. All die kleinen, leidigen Aufgaben, die erledigt werden müssen, Erde, Unkraut, Strauchtomaten, Geburtstage, Einkäufe, Heimbesuche. Die Kapillärchen hatte schon sein Vater, der Trinker, das ist genetisch. Statistisch weiß Herr Schramm auch, dass regelmäßiges Haarewaschen die Haare verweichlicht. Die können dann irgendwas nicht mehr so gut, weil das Shampoo es ihnen künstlich abnimmt. Das passiert ja dem Menschen allgemein, wenn er Dinge aus der Hand gibt.
    Anna holt Luft. Es klappt. Sie sagt:
    »Sie wollten sich umbringen.«
    Herr Schramm sagt: »Gut.«
    Anna sagt: »Was mach ich jetzt?«
    Herr Schramm versucht, den Wagen zu starten, der Motor springt nicht an.
    »Wenn man laufen geht«, sagt Herr Schramm, »hat man eventuell keine Zigaretten dabei.«
    »Ich rauch gar nicht.«
    »Hast du den Ausweis mit?«
    »Wozu denn?«
    »Ich hab meinen nicht dabei. Keinen Führerschein, gar nichts. Du könntest mir Zigaretten besorgen. Wenn nicht, könntest du den Ausweis holen und dann Zigaretten besorgen.«
    »Warum holen Sie nicht Ihren?«
    »Das schaff ich vor dem Selbstmord zeitlich nicht mehr.«
    Anna will nicht, muss aber kurz lachen. Ihr Atem stockt sofort.
    »Ich will«, sagt Herr Schramm, »noch eine rauchen. Der Tank ist leer, und ich wohne draußen, Richtung Parmen, und du hier, hinter der Kuppe. Du bist doch die Enkelin vom Geher, dem Spielzeugmacher? In zehn Minuten haben wir das erledigt, dann macht jeder seines.«
    Anna schüttelt den Kopf. Nein. Sie lässt ihn nicht allein. Allenfalls begleitet sie ihn irgendwohin. Nach Hause, zur Familie. Ob er Familie habe. Verheiratet sei.
    Herr Schramm hat Familie. Aber wie das so ist. Und Frauen? Im Sommer hat er die Frauen ein letztes Mal abgewogen, pro und kontra. Hat sich umgesehen. Aber in seinem Alter und mit seiner Geschichte. Und bei uns, wo kaum einer sagt, was er fühlt. Schwierig. Witwen höchstens. Aber die Witwen macht die Einsamkeit im Alter gläubig. Schwierig.
    Der Fährmann hatte ihm von der Partnervermittlung erzählt. Wo man sich die Pros aussuchen und die Kontras ausschließen kann. Wie im Militär. Herr Schramm fand das gut. Frau Mahlke war ja instinktiv auch eine angenehme Person. So kannst du dich täuschen. Die hat sich danach einfach nicht mehr gemeldet. Er hat angerufen und gefragt, ob er was falsch gemacht hat. Das könne man ihm ruhig sagen. Er habe ein Leben lang entweder keine oder viele Fehler gemacht, je nachdem, wen du fragst, heute stehe er aber zu den Fehlern, und auf einen weiteren komme es nicht mehr an.
    Frau Mahlke war komisch gewesen am Telefon. Komisch war nicht in Ordnung. Für komisch fehlte Herrn Schramm der Grund. Hätte sie ihm einen genannt, er wäre mit dem Komisch zurechtgekommen. Hatte er was gesagt? War er doch zu alt?
    Verzögerungen im Ablauf, hat sie gesagt. Sie hat herumgedruckst. Und Herumdrucksen – vielleicht ist Herumdrucksen die einzige Sache, bei der Herr Schramm noch immer Soldat ist. Du hast einen Befehl, oder du hast keinen. Herr Schramm ist ein kritischer Mann mit Haltung und Haltungsschaden. Der Haltungsschaden kommt sicher nicht vom Herumdrucksen. Herumgedruckst hat Wilfried Schramm nicht. So wie er sich auch vor niemandem gebückt hat, sich selbst gelobt hat, zum Schaden anderer gelogen hat. Tue Recht und scheue keinen. Der Haltungsschaden kommt davon, dass er lange Zeit vor den eigenen Fehlern auf den Knien gerutscht ist. Kommt davon, dass er zum Schaden anderer die Wahrheit gesagt hat, und dass die Wahrheit schwer gewogen hat. Konkret kommt er davon, dass Herr Schramm jetzt, im hohen Alter, den ganzen Tag über Landmaschinenmotoren gebeugt steht, wenn er nicht unter ihnen herumkriecht.
    Vielleicht weil Schramm jetzt so lange nichts sagt, sagt Anna: »Hier riecht es komisch.«
    »Es ist das Bäumchen.« Herr Schramm zeigt auf das Duftbäumchen. Und: »Familie, das ist nichts. Das wäre jetzt nichts für mich oder für die. Ich brauche einfach –«Herr Schramm wendet sich ihr wieder zu, Tränensäcke, Kapillärchen, kratzt sich unter dem Kragen und beendet den Satz nicht.
    »Okay.« Anna atmet wieder frei.

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