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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
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irgendwann. Die Fähe umkreist die Kuppeln, dem Weibchen ähnlich, wittert. Unter dem Metall schmeckt sie die Wege, die sie bereits erforscht hat. Beute, die sie erlegt hat. Futter, stibitzt aus leicht zu durchbeißenden Behältern. Sie schmeckt den schnellen Rüden, den sie in der Kaltzeit gelockt und überlistet hat, und der sie in den Nacken biss und ihr anfangs half, ihre Jungen zu ernähren. Sie ließ ihn glauben, dass es seine List war und nicht ihr eigen Spiel und Wille.
    Alles ist da. Alle Aromen, die sie je geschmeckt hat. Auch die letzte Flucht der Schwester und die Hunde, die sie aufgescheucht. Der Fähe kamen die Menschenbücklinge so nah, dass sie ihre Schnauzen schmecken konnte; sie schmeckten nach den streichelnden Fingern ihrer Herrchen. Die Fähe floh hierher, zur Menschenkolonie, statt tiefer ins Gehölz. Die gefährlichen Menschen und Hunde waren im Wald, sie würden nicht zugleich ihre Bauten hüten können. Sie lebt noch, ihre Schwester nicht mehr.
    Jedes Aroma unter den Kuppeln gehört einem Früher. In allen zusammen schmeckt die Fähe ihr eigenes Überleben. Es ruft sie, und sie will es befreien, sie will es an sich haben, sie beginnt zu graben, will unter die Kuppeln. Die Fähe kläfft, hechtet erschrocken und ermuntert umher, weil unter den Kuppeln im Überleben ein Aroma steckt, das sie denken lässt: Ich.
    Sie will sich lösen, sie muss zu ihren Welpen, die Hühner sind nah, da vernimmt sie aus der größten Kuppel ein Locken von einem ihresgleichen: ein Fuchs, ein Rüde. Sie schmeckt sein Überleben, wie es in der Heide beginnt, in einem lang vergangenen Früher, wie sein Muttertier verschwindet, wie zwei Menschenmännchen ihn füttern, einer groß, einer klein, wie er den beiden folgt ohne Furcht, und sie ihm. Sie jagen gemeinsam, und er lockt eine Fähe, dann noch eine, lebt in Höhlen und mit den Menschen in Menschenbauten, und er vergeht in etwas aus Holz und Eisen, das ihm tiefe Schmerzen bereitet. Die Fähe lernt mit ihm, erobert mit ihm, bangt um ihn – flieht schließlich vor seiner leblosen Existenz.
    Wir sind verwirrt. Am Ufer vom Tiefen See stehen drei Glocken. In der Mitte die Alte , dunkel und feist. Die Zwillinge flankieren sie: hell und schlank, zwei Monde eines dunklen Planeten. Ein leises Geläut ist die einzige Illusion, die Glocken sind echt. 5,32 EUR für ein Kilo Kupfer. Schlecht wäre die Beute nicht gewesen.

WIR SIND ARGWÖHNISCH. Seit etwa drei Wochen lungert ein junger Mann spät nachts bei uns herum bis zum Morgengrauen. Sobald Frau oder Herr Zieschke aufmachen, huscht er in die Bäckerei und bestellt O-Saft und Puddingbrezel. Am Stehtisch in der Ecke faltet er die Hände wie zum Gebet.
    Frau Zieschke hinter der Kasse drückt den Rücken durch.
    Herr Zieschke blättert in der Zeitung von gestern.
    Erst wenn er weg ist, gehen sie nach hinten, Stullen schmieren oder das machen, was Bäcker hinten machen.
    Er trägt Trainingsanzüge von Adidas . Einen weißen mit schwarzen Streifen und einen blauen mit gelben. Dunkel klebt der Schmutz zwischen den Streifen. Am blauen war eines Tages der Stoff an der Schulter aufgerissen, die Haut blutig aufgeschürft. Blass, ein blasser Mann. Die Augen, wässrig-gerötet, blinzeln fast nie.
    Adidas-Mann, sagen die Leute.
    Wir kennen das Prekäre gut. Wir kennen den Ruin. Verwahrlosung ist uns nicht fremd, noch die Scham, die mit alldem einhergeht. Aber immer wissen wir, was davor war, und sprechen über das Warum. Dann taucht einer auf, noch kaputter, und er bleibt bis zum Morgengrauen, und niemand weiß, wer er ist, er gibt uns nichts, worüber wir sprechen könnten.
    O-Saft, Puddingbrezel.
    Manchmal drückt er nach dem Frühstück die Faust in die Handfläche, sein ganzer Oberkörper zittert. Manchmal. Krempelt. Er. Die. Ärmel. Über die Ellenbogen: So langsam.
    Einmal reicht es dem Zieschke, er stellt ihm eine Frage. Er will einen Teil der Vorgeschichte wissen, einen Namen vielleicht, einen Ort. Der Adidas-Mann liest von der Tafel ab, stockend wie ein Kind:
    »Wir backen. Mit. Natur. Sauer. Teig.«
    Die Puddingbrezel reißt er mit der Gabel in kleine Stücke. Beim Kauen schließt er die Augen.
    Wir wissen nicht, woher er kommt.
    Wir wissen nicht, wohin er geht.
    Wir wissen, was ihm schmeckt.
    Die Wunde an der Schulter ist irgendwann verheilt.

ANNO 1722 VOR DEM ANNENFESTE hat sich ergeben ein schrecklicher casus tragicus. Da beym Flachstrocknen Diebstähle befürchtet wurden, bestand auch bey uns die Unsitte, Gesinde oder

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