Vor dem Fest
den Kopf wie im Film, blinzelt.
»Anna, runter von der Mauer.«
Anna gehorcht.
»So, jetzt kommt ihr beide zu mir, du auch, Lutz.«
Lutz? Welcher Lutz?
»Sag mal, Johanna, spinnst du?« Herr Schramm ist ein Mann, der keine Befehle mehr annimmt. Er rührt sich nicht. Thront, groß und warm, über dem grotesken Umriss einer Frau mit Helm, die ihn bedroht. Oder wittert er bloß eine Chance für ein Happy End von fremder Hand?
Frau Schwermuth leuchtet ihm ins Gesicht. »Ich wiederhole das nicht noch mal.«
Herr Schramm seufzt. Schwer zu sagen, ob resignierend oder genervt. Annas Mienenspiel ist eindeutiger. Sagen wir: entschlossen. Entschlossenheit spannt ihre Muskeln an, zieht Herrn Schramms Pistole aus der Kängurutasche von Annas Regenjacke und richtet sie auf Frau Schwermuth.
Entschlossenheit: »Waffe fallen lassen!«
So. Allmählich kommt Herr Schramm sich vor, als wäre er der Einzige, der heute Nacht nicht spinnt. »Sag mal«, flüstert er. Er tritt einen Schritt zur Seite, stellt sich in die Schusslinie zwischen Anna und Frau Schwermuth. Wild West in Fürstenfelde. So eine Nacht ist das.
»Wusste ich’s doch, Verräterin!« Frau Schwermuth macht keine Anstalten, aufzugeben. Den Kesselflicker habe sie erwischt und die Glocken gesichert, jetzt sei sie dran. »Anna, leg die Armbrust nieder!«
Als wärs nicht schon schwer genug, sich das eigene Leben zu nehmen, muss Herr Schramm gleich noch zwei andere retten. »Gut«, sagt er, »gut.« Und: »Johanna, jetzt mal bitte. Was geht hier vor? Das buttert doch alles nicht.«
»Lutz, guter Lutz. Willst du’s nicht sehen, oder kannst du’s nicht sehen?« Frau Schwermuth atmet schwer. »Das Mädchen wird uns verraten! Sie metzeln uns alle ab, alle!«
Für so was hat Herr Schramm gerade keine Statistik parat. »Johanna«, sagt er ruhig, »ich heiße Schramm, Wilfried Schramm. Und die da, das ist Anna. Vom Geher, dem Spielzeugmacher, die Enkelin. Die tut niemandem was. Ist doch so, Anna?«
Anna nickt, was in der Dunkelheit ziemlich unbefriedigend ist, also wiederholt Herr Schramm die Frage lauter und bekommt ein lautes »Ja« zurück.
»Nein! Sie kann doch gar nicht anders!« Frau Schwermuths Stimme bricht. »Sie muss unser Versteck verraten, Fürstenfelde wird geplündert, niemand überlebt! Sperren wir sie weg, überleben wir! Hilf mir, Lutz, sonst bist du gleich als Erster dran! So steht’s geschrieben, jedes Kind weiß das!«
Herr Schramm hat als Kind immer nur Struwwelpeter vorgelesen gekriegt. Er hat keine Ahnung, was die Schwermuth meint, aber wohl eine Befürchtung, dass ihre bebende Stimme und die wirren Worte Schlimmes meinen könnten.
Hinter ihm räuspert sich Anna. »Die«, sagt sie und schluckt, »verrät … ich verrate doch niemanden.« Sie zittert am ganzen Körper, versucht sich zu beruhigen, versucht sich zu erinnern; ihr Großvater hat ihr … »Ich treff doch. Zweimal. Zweimal ins Auge. Zwei Bolzen. Ich verrate niemanden, ich … rette. So geht das doch. Der Lutz –« Sie beendet den Satz nicht mehr.
Herr Schramm weiß, dass auch ein Mensch, der nichts zu verlieren hat, Zeit zu verlieren hat: Er läuft auf Frau Schwermuth zu.
Sie zielt auf Lutz. Ihr großer Körper wiegt sich zu einem Lied, das nur sie hören kann. Die Pupillen wandern.
IM JAR 1636, FRÜH IM HERBST, war es, daß die Kunde von der marodirenden Soldateska vor Fürstenfelde das Dorf in Aufrur versetzte, denn es war dieß keines Heeres Trupp, sondern jene verrufene streiffende Rotte aus abgedankten Söldnern ohne Schein, einst einander Feind gewesen, die blutrünstig und reuberisch durch das Land zog und, wo sie auff Leben traff, Todt hinterließ und nichts als Asche, wo Heuser gewesen.
Plünderungen und Contributionen hat das Volck allzu gut gekannt, ob durch Schweden oder Kaiserliche, einen Unterschid hats nicht gemacht. Die Geruchte über die Grausamkeit jener Rotte zeugten jedoch von solch barbarischem Unwesen, daß viele sogleich geflohn, mit kaum mehr, als was sie am Leib getragen. Die Verbliebnen, ihrer vielleicht achtzig, Frauen, Kinder und alte Leute, waren zum Fliehen zu schwach gewesen oder beteten und hofften, daß es nicht allzu schlimm kommen wird.
Der alte Lutz, derselbe einst viele Schlachten gefochten, zürnte mit dem Volck, welches sich dem Schicksal ergab, statt ein Versteck zu suchen. Die Geschicht der Menscheit sey die Geschicht von jenen, die sich gut versteckt hetten. So sprach der alte Kämpe. Wem das Leben lieb sey, der solle ihm folgen. Fast
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