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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
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heute nicht mehr. Fährmann halt. Man weiß, dass er einmal zum Annenfest nicht hat arbeiten wollen. Ruhetag, hat er gesagt, oder wie die das damals genannt haben. Lauft außen rum! Wie außen rum? Die Zeiten waren hart genug, da willst du saufen und singen und nicht noch mal drei Stunden zu Fuß um den See und nachts zurück. Die Hälfte wäre nie angekommen. Ja, und sie haben dem Fährmann ein Fass Bier geschenkt, und dann hat er es gemacht.
    »Super Geschichte.«
    Wollte Herr Schramm gar nicht erzählen. Er wollte vom Licht erzählen, das der Fährmann immer bei sich trug, auch am Tag. Und nachdem er den letzten Passagier übergesetzt hatte, zog er sich zurück in seine Hütte auf dem Werder und ließ ein einsames Lichtlein brennen, die Nacht hindurch.
    »Einsames Lichtlein?« Anna kichert.
    Eine Laterne oder was. Hör doch mal zu. Die Leute haben gefragt: Warum tust du das? Wem leuchtest du? Warum sparst du nicht dein Öl? Sie wussten, der war kein reicher Mann.
    Ein Licht, hat der Fährmann gesagt, habe er immer übrig. Bist du ohne Licht, bist du Nichts und Niemand. Erst das Licht macht dich zum Menschen. Das ist natürlich so ein Spruch, da denkst du erst mal nach.
    Anna und Herr Schramm denken nach.
    Anna sagt: »So toll ist der jetzt aber auch nicht.«
    Als Kind ist Herr Schramm im Winter, wenn der See eine dicke Eisdecke hatte, mit dem Pikschlitten zum Güldenstein gefahren. Am liebsten in der Nacht. Durfte er nicht, hat er trotzdem gemacht. Am liebsten mit Imboden, mit Hanno, mit Eddie, und Annas Opa war auch dabei.
    Ja, und da siehst du mal. Jetzt schlägt nämlich die Enkelin Herrn Schramm vor, wenn der See gefriert, könnten sie zusammen rüber.
    Herr Schramm räuspert sich. Dreht sich zu Anna um. Sie hat die blöde Stirnlampe an. Mach die mal kurz aus, Mensch. Kein Wunder, dass du nichts siehst.
    Anna gehorcht.
    Herr Schramm wendet sich wieder dem See zu. Was der alles gewesen sein soll, der Güldenstein. Ein riesiger Klumpen Gold. Ein Schatz. Ein Stern mit dem schwarzen See als Himmel. Ein Leuchtturm für den, der Warnung und Geleit braucht. Ein Rätsel. Algen und Moos. Das Verderben für den gierigen Bauern aus dem Märchen. Eine Geschichte, von der Schramm damals schon wusste, später erzählt er sie mal jemandem. Anna, hör zu: Es gibt keine Geschichte. Es war einmal ein Fährmann, der immer ein Licht bei sich trug. Und nachdem er gestorben war, begann ein Stein zu leuchten.
    Es war einmal Wilfried Schramm. Er saß auf einem leuchtenden Stein und rauchte seine erste Zigarette. Konnte das nicht sehr gut. Hat gezittert vor Kälte und Aufregung. Die Fledermäuse sind vom Werder aufgestiegen und über den See geflogen. Damals dachte er: mäandern. Das ist so ein Wort. Viel zu langsam für eine Fledermaus. Und Fürstenfelde mit seinen Lichtern sah von dem Stein aus, so schief und langgezogen, wie ein riesiges Schiff, das irgendwann mal aufgelaufen war und nicht mehr wegkam. Generationen von Idioten drauf, die es nicht aufgeben wollen, und immer neue werden geboren und sterben dort auch. Manchen geht es gut, manchen nicht so.
    Anna schweigt. Anna schielt. Über den Eschen, dort?
    Im Schnitt ist in Ländern mit höherem Lebensstandard die Suizidrate höher als in ärmeren Ländern. Überall bringen sich mehr Männer um. Nur in China nicht. Im Schnitt in der DDR anderthalbmal häufiger als im Westen. Herr Schramm kann es sich nicht vorstellen, dass das nur mit der DDR zu tun hatte. Eher eine Frage der Tradition, siehe Rheinland: alle katholisch, und kaum einer macht sich tot.
    Herr Schramm glaubt an Moos und Algen und nicht an Wiedergeburt und Magie. China, ausgerechnet. Herr Schramm glaubt, dass es ganz egal ist, ob du Chinese bist oder Fürstenfelder, Fährmann oder Schiffbrüchiger in der Vergangenheit oder jetzt – eine Zeitlang leuchtest du. Du leuchtest so vor dich hin. Leuchtest vielleicht für niemanden, vielleicht für jemanden. Güldenstein.
    Anna braucht Herrn Schramms Gesicht nicht zu erkennen, um es zu sehen. Der Redefluss, der über seine Wortkargheit hinweggewaschen ist, hat sie überrascht. Nun brütet er wieder vor sich hin. Müde. Müde vielleicht.
    Jetzt: Schmatzende Schritte im Matsch, und ein Licht, das sich nähert. Aus der Dunkelheit am Friedhof schält sich ein breiter Schatten, links eine Taschenlampe, rechts eine Pistole vermutlich – es sei denn, es ist ein Scherz, dass eine Frauenstimme, etwas altmodisch, »Hände hoch!« verlangt vom alten Mann und der jungen Frau.
    Zwei

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