Vor dem Regen - Roman
Nasenrücken, so dass Tomasz einen Moment lang meinte, er werde vielleicht von einer persönlichen Beziehung zu Australien berichten, einem Angehörigen, der nach dem Krieg dorthin ausgewandert war, oder dem lang gehegten Wunsch, selbst einmal hinzufahren, doch er sagte nichts und beugte sich nur herab, um einen Packen Umschläge unter der Theke herauszuholen.
»Möchten Sie sie gleich sehen?«, fragte Herr Franz. »Solange Sie noch hier im Laden sind?«
»Nein, das hat Zeit«, entschied Tomasz.
Herr Franz lächelte ihm verschwörerisch zu; auch er kannte die Freuden des Wartens. Die Umschläge an die Brust gedrückt, lief Tomasz auf die Hackeschen Höfe zu. Wie üblich war das schmuddelige Café leer. Wie üblich brauchte der Kaffee ewig.
Als er endlich kam, rührte Tomasz ein Päckchen Zucker hinein und nahm einen Schluck. Nachdem dem Ritual so Genüge getan war, konnte er den ersten Umschlag öffnen. Die Fotos würden in chronologischer Reihenfolge sein, das war ihm klar; auf so etwas legte Herr Franz Wert. Die erste Aufnahme war gleich hinter Darwin entstanden - ein Keilschwanzadler auf einem überfahrenen Känguru. Kein sehr gutes Foto, da hatte er sich noch nicht auf das harte australische Licht eingestellt gehabt, aber, Mann, was für ein Vogel! Ihm fiel wieder ein, wie abgebrüht er sich gegen Ende der Reise gegeben hatte: »Ach, schon wieder ein Keilschwanzadler.« Doch hier in diesem Café, umgeben von tausenden von Jahren Siedlungsgeschichte und Zivilisation, war er von der Schönheit des Tieres schier überwältigt
- die gewaltigen Krallen, die gefiederten Beine, der grausam geschwungene, in Blut getränkte Schnabel. Das nächste Bild zeigte denselben Vogel im Flug, die majestätischen Schwingen gespreizt.
»Der ausgewachsene Wedgie hat eine Spannweite von bis zu zweieinhalb Metern«, hatte die Reisebegleiterin gesagt.
Später erst war ihm klar geworden, dass mit dem Wedgie ein Keilschwanzadler gemeint war und Australier ganz allgemein allergisch auf Worte mit allzu vielen Silben reagierten. Wie hatte Dusty doch gleich zu ihrer Sonnenbrille gesagt? Ja richtig - Sunny .
Und so ging es weiter. Foto um Foto, Vogel um Vogel. Hin und wieder stahl sich eine Landschaft unter die ornithologische Parade - der obligatorische Schnappschuss des Uluru im Sonnenuntergang zum Beispiel - oder, noch seltener, ein Porträt seiner Mit-Vogelbeobachter oder von Jess, dem jungen Aborigine, der sie auf der Buschwanderung geführt hatte. Aber im Großen und Ganzen konnte Tomasz Menschen als Bildgegenstand nicht viel abgewinnen. Warum auch, wenn es doch Vögel gab?
Er öffnete den letzten Umschlag, nahm die Bilder heraus und legte sie auf den Tisch. Zuoberst lag die Aufnahme einer Schar Spaltfußgänse vor rot durchfurchtem Himmel, die er während der Abenddämmerung im Botanischen Garten von Darwin gemacht hatte. Es war das letzte Foto, das er an diesem Tag geschossen hatte. Danach waren sie alle in den Pub gegangen, um ein paar Bierchen zu trinken, dann in den nächsten Pub auf ein paar weitere Bierchen und schließlich in den Pub, in dem er Dusty getroffen hatte.
Er legte die Spaltfußgänse zur Seite, und da stand sie, am Ufer des Billabongs, ohne zu merken, dass er sie in den Sucher
genommen hatte. Sie war genau so, wie er sie im Gedächtnis hatte, und doch ganz anders, als er sie im Gedächtnis hatte. Sie war schöner und nicht so schön. Begehrenswerter und nicht so begehrenswert. Sein Penis regte sich.
Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Urplötzlich und scheinbar aus dem Nichts stand der rattengesichtige Ober am Tisch.
»Bitte?«, erkundigte er sich.
Sein Blick huschte über das Foto, und er lächelte Tomasz zu. »Ihre Frau?«, wollte er neugierig wissen.
Tomasz legte die Hand auf das Bild, sagte: »Nein«, und bestellte noch einen Kaffee.
Wirf es weg, jetzt gleich, ermahnte sich Tomasz. Wirf das verdammte Foto in den verdammten Abfalleimer. Nein, besser noch, wirf es von der Brücke. Er stellte sich Dusty vor, wie sie auf dem Fluss davontrieb, sanft von der Strömung gewiegt. Oder noch besser, zünd sie an. Gleich da vorne, unter der Nase von Marx und Engels.
Stattdessen steckte er das Foto in die Innentasche seiner Jacke.
Das nächste Foto zeigte den Azurfischer und war die beste Aufnahme, die er in zwanzig Jahren Vogelfotografie zuwege gebracht hatte. Er nahm es zur Hand und hielt es ans Licht. Alles daran - die Schärfe, die Komposition - war perfekt. Das war das Foto, das ihm endlich den Verga
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