Vor dem Regen - Roman
kleine Lupe. Sie bewegte die Maus, bis der Cursor auf dieses Symbol zeigte, dann klickte sie. Nun wurde der Cursor selbst zur kleinen Lupe. Die zog sie ins Zentrum des Rechtecks. Wieder klickte sie mit der Maus. Das Bild zoomte heran. Dusty spürte den Rausch des Triumphs. Sie hatte das mächtige Photoshop bezwungen. Sie klickte weiter, bis das Rechteck den gesamten Bildschirm ausfüllte.
»Wer ist das?«
Dusty war derart in ihr Tun versunken, dass sie Juliens Hereinkommen gar nicht bemerkt hatte.
»Wer ist wer?«
»Der Kerl da.«
»Verarsch mich nicht.«
»Nein, im Ernst«, sagte Julien und deutete in die Mitte des schwarzen Rechtecks.
Dusty sah, dass dort etwas anders war - das Licht, die Textur -, aber das war auch alles, was sie erkennen konnte.
»Und wie sieht dieser so genannte Kerl aus?«
Julien blickte auf den Monitor und bewegte den Kopf erst nach links, dann nach rechts.
»Nicht wie einer, mit dem ich ins Bett steigen würde.«
»Julien!«
»Was weiß ich denn, das ist schwer zu sagen, jedenfalls steht da definitiv jemand rum.«
35
Die offizielle Bezeichnung lautete Beweismittelverwahr- und Archivierungsanstalt. Wenn man es aber gemeinhin nur den Schuppen nannte, so lag das mehr am Aussehen denn an der Funktion. Es unterschied sich in nichts von den übrigen hangarartigen Lagerhäusern im Gewerbegebietsgürtel rund um Darwin, wo Waren angeliefert und umgeschlagen wurden. Hier allerdings handelte man nicht mit Wegwerfwindeln, Waschmaschinen oder DVD-Spielern; was hier einging, waren die Auswürfe des Verbrechens - ein blutiges Messer, ein mit Samen bespritztes Laken, ein einzelnes Haar -, jeweils eingetütet und beschriftet und mit einer eindeutigen, dem konkreten Fall, dem konkreten Verbrechen zugeordneten Nummer versehen.
Sergeant Gerard Bevan sah auf die Uhr - es war schon nach Mittag. Wieder dachte er an seine Wette mit Fontana: fünfzig Mäuse, dass Detective Buchanon sich nicht blicken ließ.
»Mann, du kennst sie nicht so wie ich«, hatte Fontana gesagt. »Nie im Leben tut sie sich noch mal diese blöde Uniform an.«
Trotz der fünfzig Dollar, die ihn das kosten würde, hoffte Gerard, dass Fontana recht behielte und Dusty Buchanons Stolz verhinderte, dass sie ihre neue Stelle im Schuppen, in seinem Schuppen, antrat. Als Gerard im Schuppen angefangen hatte, waren die Auswirkungen des Azaria-Chamberlain-Fiaskos,
als Asservate im großen Stil verloren gegangen oder unerlaubt vernichtet worden waren, noch längst nicht überwunden gewesen. Gerard hatte just zu der Zeit, da die konsequente Lagerung und Auffindbarkeit von Beweismitteln sowie die Verhinderung von Kontaminierungen angesichts der zunehmenden Bedeutung der DNA-Analyse zum ganz großen Thema wurden, das Steuer herumgerissen. Zugegeben, beim McVeigh-Prozess hatte es ein paar unschöne Pannen gegeben, aber die waren ausgebügelt, wozu also brauchte er jetzt Detective Dusty Buchanon?
Natürlich kannte er die Gerüchte. Es gab zwar keine direkte Verbindung zwischen Hauptgebäude und Schuppen, aber es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, und jeder der migrierenden Gesetzeshüter war Überträger von Tratsch und Klatsch: Detective Buchanon hat die Anklage gegen Gardner total in den Sand gesetzt, Johns Unfall war allein Detective Buchanons Schuld, Commander Schneider hat Detective Buchanon auf dem Kieker. Es waren auch schlüpfrige Gerüchte im Umlauf: Detective Buchanon machte Sexreisen nach Bali, Detective Buchanon war ein Hermaphrodit, aber die gingen Gerard nun wirklich am Arsch vorbei.
Für ihn war einfach nicht plausibel, dass man sie quasi zur Strafe in Uniform in den Schuppen beordert hatte. Gerard hatte da eine andere Theorie: Dusty hatte den nötigen Biss für die Polizeiarbeit verloren. Ob man es nun PTBS oder sonst wie nannte, sie packte es einfach nicht mehr - das Blut, die Eingeweide, den Dreck. Und deshalb schielte sie jetzt nach einer Karriere am Schreibtisch, an seinem Schreibtisch.
Um 14.20 Uhr erschien Detective Buchanon entschlossenen Blicks vor Gerards Schreibtisch, angetan mit einer frisch ausgepackten Uniform, auf der sich die Querfalten noch deutlich abzeichneten.
»Heilige Scheiße!«, sagte er.
»Was denn?«, wollte Dusty wissen.
»Wegen dir hab ich grade fünfzig Mäuse gewonnen.«
»Lass mich raten. Fontana?«
Gerard nickte.
»Er hat mit dir gewettet, dass ich nicht auftauche?«
Wieder nickte Gerard.
»Und du hast dagegengehalten.«
»Sozusagen.«
»Aber gehofft, dass ich’s nicht
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