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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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ist längst abgerissen, und die Haustür hängt nur noch in einer Angel. Ich muss gegen das Holz drücken, das unter meinen Händen zerbröckelt, und mich seitwärts durch Spinnweben voller welker Blätter hindurchzwängen, um ins Haus zu gelangen.
    Das Haus ist ein ausgedörrtes Tierskelett, alle Spuren von Leben darin sind im Laufe der Jahre entfernt und weiterverwertet worden. Papa Joseph hat Daddy vor seinem Tod noch beim Bau unseres Hauses geholfen, aber kaum waren er und Mother Lizbeth tot, holten wir Stück für Stück Stühle, Bilder und Geschirr aus ihrem Haus, bis nichts mehr übrig war. Mama versuchte, das Haus zu belassen, wie es war, aber wenn sie ein Bett für mich und Skeet brauchte oder einen neuen Kochtopf, wenn ihre schwarz geworden waren, dann war das wichtiger, als das Haus wie einen Schrein zu erhalten, bis hin zu den Häkeldecken auf den Sofas, die Mother Lizbeth hinterlassen hatte. Das hat Daddy jedenfallsgesagt. Und jetzt pulen wir an dem Haus herum wie an spärlichen Essensresten, und von Papa Joseph sind nur noch Overalls und graue Hemden geblieben, und Schnupftabak und Augen, die mit dem Alter blau geworden waren. An Mother Lizbeth kann ich mich besser erinnern. Ich saß auf ihrem Schoß und spielte mit ihrem Haar, das grau und glatt war, so fest wie Draht. Ich half ihr beim Einnehmen ihrer Medizin: zwei Hände voll Tabletten musste sie jeden Tag nehmen, und ich reichte sie ihr eine nach der anderen. Sie gab mir süße Feigen, noch warm wie der Tag, die wir von einem Baum hinter dem Haus gepflückt hatten. Sie lachte mich aus, sagte, ich würde die Feigen so vorsichtig essen wie ein Vöglein; ihr Lächeln war schwarz und zahnlos. Und manchmal war sie giftig, wollte nicht umarmt werden, wollte nur auf ihrem Stuhl auf der Veranda sitzen und ihre Ruhe haben. Als sie starb, erzählte mir Mama, sie sei von uns gegangen, und ich fragte mich, wo sie wohl hingegangen war. Weil alle anderen weinten, klammerte ich mich wie ein Äffchen an Mama, schlang Beine und Arme um ihren weichen Körper und weinte, während die Liebe durch mich hindurchrann wie ein heftiger, blind machender Sommerregen. Und dann starb Mama, und ich hatte niemanden mehr, an den ich mich klammern konnte.
    Ich bücke mich und klatsche alle Flöhe ab. Skeetah zerrt keuchend in einer Ecke der Küche am Fußboden, sein ganzer Körper ist angespannt. Gestern trug er noch einen kurzen Afro, aber heute ist sein Kopf glatt rasiert und einen Ton heller als der Rest von ihm. Seine Kopfhaut sieht wie frisch umgegrabener Sand aus.
    »Junior hat mir gesagt, dass du hier bist. Was machst du?«
    »Ich will das Linoleum rauskriegen.«
    »Wozu?«
    Skeetah versuchte, es von der Ecke her abzureißen. Ein großer Zipfel klappte vor ihm um wie ein Hundeohr.
    »Es ist im Sand.« Er zog. Ich erwartete, dass er ächzen würde, aber er gab keinen Laut von sich. Seine Muskeln bewegten sich wie geplatzte Kaugummiblasen. »Das Parvo. Es ist im Sand im Schuppen.«
    »Und was soll Mother Lizbeths Fußboden da machen?«
    »Er soll den Sand bedecken.« Er zog, ein lautes Schnappen war zu hören, und die Bodenfliese gab nach. Er warf sie hinter sich, und sie landete auf einem Stapel von vier oder fünf anderen.
    »Du machst für China einen Fußboden?« Daddy hatte mit dem Bau unseres Hauses angefangen, nachdem Mama und er geheiratet hatten. Wegen der Geschichten über ihn und Papa Joseph, die ich hörte, als ich heranwuchs, dachte ich immer, das sei etwas, was ein Mann für eine Frau tat, wenn sie heirateten: ihr etwas bauen, wo sie wohnen kann.
    »Nein, Esch.« Skeetah schneidet mit einem von Daddys rostigen Teppichmessern an der Unterseite der nächsten Bodenfliese entlang. »Ich rette die Welpen. China ist stark und alt genug, dass das Parvo sie nicht umbringen wird.« Er zog ruckartig. »Sie sind Geld wert.«
    »Wieso hast du dir die Haare abgeschnitten?«
    »Ich hatte sie satt.« Skeetah zuckt die Achseln, zieht. »Was hast du heut vor?«
    »Nichts.«
    »Willst du mit mir mitkommen?«
    »Wohin?«
    »In den Wald.« Skeetah zieht noch einmal kräftig, und die nächste Fliese geht ab. Er wirft sie weit von sich. »Du musst rennen.« Ich war immer eine gute Läuferin. Als die Jungs und ich noch kleiner waren und Wettrennen machten, war ich immer unter den ersten drei. Ein paar Mal habe ich Randall geschlagen, und Skeet ein oder zwei Mal beinahe. »Ich brauche deine Hilfe.«
    »Okay.« Er braucht mich. Ehe China die Welpen bekommenhat, habe ich ihn manchmal

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