Vor dem Sturm
so schöne Stunde verdanken. Lemierre n'est qu'un auteur de second rang. Aber wie überlegen ist sein ›Guillaume Tell‹ dem ›Wilhelm Tell‹ des Herrn Schiller, ein Stück, in dem mehr Personen auftreten, als die vier Waldstätte Einwohner haben. Und dazu ein beständiger Szenenwechsel; ein Lied wird gesungen, und ein Mondregenbogen spannt sich aus; alles opernhaft. Zuletzt erscheint Geßler zu Pferde...«
»... und der Souffleur gerät in Gefahr, wie Max Piccolomini unterm Hufschlag zugrunde zu gehen. Nicht wahr, Schwester?«
»Ich akzeptiere deine Worte und überhöre den Spott, der sich nach deiner Art mehr gegen mich als gegen den Dichter richtet. Er kann übrigens meiner Zustimmung entbehren; der Weimaraner Herzog hat ihn nobilitiert.«
»Das hat er. Hast du denn aber je den Schillerschen ›Tell‹ mit Aufmerksamkeit gelesen?«
»Ich hab es wenigstens versucht.«
»Da bist du mir in unserem Streit um einen Pas voraus, denn ich darf mich meinerseits nicht rühmen, auch nur einen Versuch zur Lektüre Lemierres gemacht zu haben. Aber eines ist sicher, er kam und ging. Sie mögen ihm, was ich nicht weiß, einen Sitz in der Akademie gegeben, ihm Kränze geflochten, ihm in irgendeinem Ehrensaal ein Bild oder eine Büste errichtet haben, es bleibt doch bestehen, was ich sagte: er kam und ging. Er hat keine Spur hinterlassen.«
»Und doch folgten wir vor einer Stunde erst eben diesen Spuren und waren hingerissen durch die Schönheit seiner Worte.«
»Seiner Worte, ja; aber nicht durch mehr. Er mag das Herz seiner Nation berührt haben, aber er hat es nicht
getroffen
. Nach solchen Balsam- und Trostesworten, wie sie der Schillersche Tell hat:
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Greift er getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ew'gen Rechte,
wirst du den Tell deines Lemierre, dessen bin ich sicher, vergeblich durchsuchen. Ich wüßte sonst davon. Dieser ›Herr Schiller‹, wie du ihn nennst, ist eben kein Tabulaturdichter, er ist der Dichter seines
Volkes
, doppelt jetzt, wo dies arme niedergetretene Volk nach Erlösung ringt. Aber verzeih, Schwester, du weißt nichts von Volk und Vaterland, du kennst nur Hof und Gesellschaft, und dein Herz, wenn du dich recht befragst, ist bei dem Feinde.«
»Nicht bei dem Feinde, aber bei dem, was er vor uns voraushat.«
»Und das ist in deinen Augen nicht mehr und nicht weniger als alles. Ich sehe seine Vorzüge, wie du sie siehst, aber das ist der Unterschied zwischen dir und mir, daß du von keiner Ausnahme wissen willst und der im ganzen zugestandenen Überlegenheit auch in jedem Einzelfalle zu begegnen glaubst. Erinnere dich, es gibt Fruchtbäume, die nur spärlich tragen; vielleicht ist Deutschland ein solcher. Und wenn denn durchaus gescholten werden soll, so schilt den Baum, aber nicht die einzelne Frucht. Diese pflegt um so schöner zu sein, je seltener sie ist. Und eine solche seltene Frucht ist
unser
›Tell‹.«
Während dieses Streites hatte sich aus dem Salon und dem Billardzimmer her ein rasch wachsender Kreis von Zuhörern um Vitzewitz gebildet, welcher erst, als er schwieg, das Peinliche der Situation empfand; nicht seiner ihn stets herausfordernden Schwester, wohl aber Mademoiselle Alceste gegenüber. Er trat deshalb auf diese zu, küßte ihr die Hand und sagte: »Pardon, Madame, wenn ich durch eines meiner Worte Sie verletzt haben sollte. Ich fühle, was wir einem fremden Gaste, aber zugleich auch, was wir unserem Vaterlande schuldig sind. Sie sind Französin; ich frage Sie, was Sie an irgendeiner Stelle Frankreichs bei Unterordnung Ihres Corneille unter einen fremden Poeten zweiten Ranges empfunden haben würden! Ich täusche mich nicht in Ihnen, Sie hätten gesprochen nach Ihrem Herzen, nicht nach der Forderung gesellschaftlicher Konvention. Madame, ich rechne auf Ihre Verzeihung.«
Mademoiselle Alceste erhob sich mit einer Würde, als ob ihr mindestens eine Corneilleszene zu spielen auferlegt worden sei, und sagte: »Monsieur le Baron, vous avez raison, et je suis heureuse de faire la connaissance d'un vrai gentilhomme. J'aime beaucoup la France, mais j'aime plus les hommes de bon coeur partout où je les trouve.« Dann, sich respektvoll vor der Gräfin verneigend, fuhr sie, gegen diese gewandt, fort: »Mille pardons, Madame la Comtesse, mais, sans doute, vous vous rappelez la maxime favorite de notre cher prince: la vérité c'est la meilleure politique.«
Die Gräfin reichte der alten Französin die Hand
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