Vor dem Sturm
»Cléofé s'adressant à Walther Fürst«, stand noch aus. Tante Amelie, die das Stück in allen seinen Einzelheiten kannte, versprach sich gerade von diesen Zornesalexandrinern einen allerhöchsten Effekt und äußerte sich eben in diesem Sinne gegen Drosselstein, als die Regisseurklingel hinter dem Vorhang den Fortgang des Spieles anzeigte.
Aber wer beschreibt das Staunen aller, zumeist der Gräfin selbst, als jetzt, bei dem Sichwiederöffnen der Gardine, statt Cléofés ein verwandtes und doch wiederum wesentlich verändertes Bild auf sie niederblickte. Was bedeutete diese neue Gestalt? Nur einen Augenblick schwebte die Frage. Der Hirtenstab, der Rhododendronstrauß, das Barett mit der Agraffe waren abgetan, und ein kurzer Rock mit grünem Kragen, der wenigstens die obere Hälfte des schwarzen Seidenkleides verdeckte, ließ keinen Zweifel darüber, daß die trotzig auf dem Felsen stehende Jägergestalt niemand Geringeres sein sollte als Wilhelm Tell selbst. Mit der Spitze seiner Armbrust wies er auf den eben getroffenen Geßler. Und in
deutscher
Sprache, verwunderlich, aber nicht störend akzentuiert, sprach Alceste, die dieser von Faulstich geplanten Überraschung mit großer Bereitwilligkeit zugestimmt hatte, die Schlußworte des Dramas, die, hier und dort über das Schweizerische hinausgehend, als ein allgemeiner Hymnus auf die Befreiung der Völker gedeutet werden konnten:
»Tot der Tyrann! Er schändet uns nicht mehr,
Bedrückte Brüder, Freunde, tretet her,
Von seinem Schlosse, das in Flammen steht,
Der Feuerschein wie eine Fahne weht,
Verkündigend: es fiel die Tyrannei,
Geßler ist tot, und unser Land ist frei.«
Bei diesen Worten stieg Demoiselle Alceste die Felsenstufen hinunter, und dicht an den Rand des Podiums tretend, fuhr sie mit gehobener Stimme fort:
»Und denkt der Feind an einen Rachezug,
Ihn zu vernichten sind wir stark genug;
Er komme nur, Soldaten sind wir all,
Es schirmt uns unsrer Berge hoher Wall,
Und dringt er doch in unsre tiefste Schlucht,
Die keinen Ausgang kennt und keine Flucht,
Dann über ihn mit Fels und Block und Stein,
In der Verwirrung
wir
dann hinterdrein,
Mit Sens' und Sichel und mit Schwert und Speer:
›Ergib dich, Feind, du rettest dich nicht mehr!‹
So fällt sein Helmbusch, seines Stolzes Zier,
Denn stärker war die Freiheit, waren
wir
.«
Ein Beifallssturm, der alle Triumphe Kathinkas verschwinden machte, brach jetzt los, und: »Demoiselle Alceste« klang es, erst gemurmelt, dann immer lauter. Nach Innehaltung der den Applaus steigernden Pause erschien die Gerufene, sich würdevoll verneigend, und da weder für Kränze noch Bouquets gesorgt worden war, trat Tante Amelie selbst an das Podium und reichte ihr zum Zeichen ihres Dankes auf die Bühne hinauf ihre Hand. Gleich darauf intonierte Nippler ein kurzes, von ihm selbst gesetztes Finale, unter dessen Klängen die Gäste sich erhoben, um in den Fronträumen das Souper zu nehmen.
Hier war inzwischen an kleinen Tischen gedeckt worden, an denen nun, nach dem baldigen Erscheinen derer, die die Mühen des Tages recht eigentlich bestritten hatten, wie Wahl oder- Zufall es fügten, Platz genommen wurde. Auch Nippler war geladen worden. Bamme, der eine Vorliebe für Ausnahmegestalten hatte, nahm ihn in besondere Affektion, ihm einmal über das andere versichernd: »Das sei doch einmal eine Musik gewesen. Besonders die Flöte.«
Der Haupttisch, auf dem sechs Couverts gelegt waren, stand in dem Spiegelzimmer. Hier saßen unmittelbar neben der Gräfin Mademoiselle Alceste und Kathinka, den Damen gegenüber aber Drosselstein, Berndt und Baron Pehlemann, der auf dem Gebiete französischer Literatur nicht ganz ohne Ansprüche war und die »Henriade« in Übersetzung, den »Charles Douze« sogar im Original gelesen hatte. Tubal und Lewin, als Anverwandte des Hauses, machten die Honneurs in dem blauen Salon; einige der Herren hatten sich in das Billardzimmer zurückgezogen, unter ihnen Medewitz, dessen etwas fistulierende Stimme von Zeit zu Zeit an dem Tische der Gräfin hörbar wurde.
Es war dies derselbe auf vier runden Säulen ruhende Marmortisch, an dem bei Gelegenheit des Weihnachtsdiners der Kaffee genommen und schließlich in Veranlassung der alten Streitfrage »Roi Frédéric oder Prince Henri« eine ziemlich pikierte Debatte zwischen dem alten Vitzewitz und seiner Schwester, der Gräfin, geführt worden war. Auch heute sollte diesem Tisch eine geschwisterliche Fehde nicht fehlen.
Aber
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