Vor dem Sturm
Herrenhause war alles Leben und Bewegung; die einen rüsteten sich zum Gange in die Kirche, die andern zu der Frankfurter Fahrt. Es fehlten nur noch zehn Minuten an zehn; Krist fuhr vor (wieder die Ponies), und erst Berndt und Bamme, dann Hirschfeldt und Grell bestiegen das offene Gefährt. Nur Lewin und Tubal blieben zurück, vielleicht weil die Sitzplätze des Wagens nicht recht ausreichten, vielleicht auch, um an einem so wichtigen Tage wie der heutige den herrschaftlichen Chorstuhl nicht unbesetzt erscheinen zu lassen. Und jetzt begannen die Glocken zum dritten Mal zu läuten, und während mit den Abfahrenden noch Grüße gewechselt wurden, boten die beiden zurückbleibenden Freunde den schon zum Kirchgange bereitstehenden Damen ihren Arm und schritten mit ihnen erst durch die verödeten Gänge des Parkes, dann durch die Lindenallee bis zur Kirche hinauf. Die kleine Seitenpforte war verschlossen, so daß sie heute den Haupteingang benutzen und durch den Turm, wo die Bahre und die gesprungene Türkenglocke stand, in die Kirche eintreten mußten. Diese war schon gefüllt, da jeder in Erfahrung gebracht hatte, daß ein Wort über Krieg und Frieden von der Kanzel gesprochen werden sollte. Nur der Majorsstuhl dicht vor dem Altar war leer wie immer.
Renate und die Schorlemmer gingen das Mittelschiff hinauf, Lewin und Tubal folgten. Als sie bis in die Mitte waren, bogen sie nach rechts hin in einen Quergang ein, der erst zu einem schmalen Treppchen und mit Hülfe desselben zu dem herrschaftlichen Chore hinaufführte. Hier nahmen sie Platz auf alten hochlehnigen Lederstühlen und stimmten in das Lied ein, das eben gesungen wurde. Lewin saß am meisten zurück, Tubal unmittelbar hinter Renate und der Schorlemmer, so daß er zwischen ihnen hindurch den Blick auf das große Denkmal und ein paar der vordersten Bankreihen frei hatte. Auf der zweitvordersten Bank saß Schulze Kniehase samt Frau und Tochter. Marie hatte sich mit Renaten leise begrüßt, aber seitdem von ihrem Gesangbuche nicht mehr aufgeblickt.
Es war ein schöner Tag; alles sah hell aus, und dieser Eindruck wuchs noch, als die lichte Gestalt unseres Seidentopf auf der Kanzel erschien. Der Gesang schwieg, und nur die Orgeltöne klangen noch leise nach, während alles sich neigte, um, dem Vorgange des Geistlichen folgend, ein stilles Gebet zu sprechen. Nun aber ging es wieder wie Leben durch die Versammlung, aller Köpfe richteten sich auf, und Seidentopf, mit der Rechten sein langes weißes Haar zurückstreichend, begann: »Andächtige Gemeinde! Der Tag, den wir ersehnt haben, ist gekommen. Vor Wochen und Monaten schon, als Gott auf den russischen Schlachtfeldern sein Zeichen gab, als edle und tapfere Heerführer, den Schein des Ungehorsams nicht fürchtend, im wahrhaften Sinn und Geist unseres Königs zu handeln und den ersten entscheidenden Schritt zur Abwerfung eines uns unerträglich gewordenen Joches zu tun wagten, schon damals wußten wir, daß dieser ersehnte Tag kommen werde. Aber er war noch nicht da. Nun ist er angebrochen. Der Übergang von der Knechtschaft in die Freiheit bereitet sich vor. Der König hat geredet, das ungeduldig erwartete Wort, es ist gesprochen worden. Jeder unter euch kennt es, aber von dieser Stelle aus sei es noch einmal verkündet.«
Und nun entfaltete unser Freund das den Aufruf abschriftlich enthaltende Blatt und las mit lauter und eindringlicher Stimme. Die Wärme seines Vortrags lieh auch den einfachsten Sätzen Bedeutung und Leben, und eine Wirkung gab sich zu erkennen, wie sie bei dem Einzellesen daheim niemand an sich erfahren hatte. Besonders waren es die Worte, die von der Vaterlandsliebe und der in Zeiten der Gefahr immer am lebhaftesten bewährten Anhänglichkeit an den König sprachen, denen die Versammlung mit sichtlicher Bewegung folgte.
Und nun fuhr Seidentopf fort: »So, meine Freunde, hat der König gesprochen. Gesprochen wie noch nie zuvor, weil er noch nie zuvor in gleich hohem Maße das für einen König erhebendste und beglückendste Gefühl haben durfte, das Gefühl einer reinen und vollkommenen Übereinstimmung mit seines Volkes Wunsch. Ein heiliger Krieg ist es, der beginnt, ein Krieg voll Hoffnung
auf innerliche Befreiung
, und so will ich denn sprechen über die Worte des Propheten Jeremias im achtzehnten Kapitel: ›Und plötzlich rede ich gegen ein Volk und Königreich, daß ich es ausrotte, zerbreche und verderbe; wo sich es aber bekehret von seiner Bosheit, dawider ich rede, so soll mich auch
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